Heimweh ist stärker als Angst: In Leonberg wartet Salim Aziz ungeduldig auf seinen Flug in den Irak. Immer mehr Flüchtlinge kehren freiwillig in ihre Heimat zurück – auch in Länder, in die nicht abgeschoben wird.

Böblingen - Sein Handy ist der wichtigste Schatz von Salim Aziz. Es ist seine Verbindung zur Familie, seine Nabelschnur in die Heimat. Diese liegt im Norden des Irak, im autonomen Kurdengebiet. Vor knapp sechs Monaten hat Salim Aziz diese Heimat verlassen. Wie so viele andere Iraker. Die Flucht, die er zum größten Teil zu Fuß bewältigte, führte ihn schließlich nach Leonberg. Hier lebt er gemeinsam mit vier anderen Männern in einer Asylunterkunft des Kreises. Doch dort ist er nur nachts. Die langen Tage ohne Beschäftigung verbringt er heimwehgeplagt im Leo-Center, der großen Shopping-Mall in der Leonberger Innenstadt. Dorthin lädt er zu einem Treffen ein. Er ist überpünktlich und wartet auf einer Bank im Obergeschoss des Centers. Dort gibt es Wlan. So kann er mit seinem Handy Kontakt halten zur Familie – mit Bildern, die er postet, und mit Fotos aus der Vergangenheit, die sein altes Leben zeigen.

 

Wie ein Tagebuch ist das Smartphone des 34-Jährigen. Die Fotos in den sozialen Netzwerken zeigen ihn als stolzen Kämpfer der Peschmerga, der Armee der Kurden. Sie bestimmte sein Leben, seit er 15 ist. Einen Beruf hat Salim Aziz nie gelernt, kaum die Schule besucht. Er ist ein Soldat wie sein Vater, seine Brüder. In den vergangenen zwei Jahren kämpften Aziz und seine Brüder gegen einen mächtigen, gefährlichen Feind: Daesch, wie die Araber und Kurden die Truppen des selbst ernannten Islamischen Staats (IS) nennen. Verachtung schwingt in dieser Bezeichnung mit.

Die deutsche Regierung unterstützt die Peschmerga in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat mit Waffen. „Ohne die Hilfe der Peschmerga gäbe es Minderheiten wie die Jesiden im Irak jetzt nicht mehr“, begründete der Vizekanzler Sigmar Gabriel erst in dieser Woche bei einem Wahlkampfauftritt in Sindelfingen die Waffenlieferungen an die kurdische Armee.

Schreckliche Fotos von den Gräueln der Terroristen

Im elektronischen Tagebuch von Salim Aziz finden sich auch schreckliche Fotos von den Gräueln der IS-Terroristen: Dutzende Tote – Männer, Frauen und Kinder liegen aufgereiht auf dem Boden. „Daesch“, sagt der Kurde, „das war Daesch.“ Die Verständigung mit Aziz ist schwierig. Er spricht kein Deutsch, kein Englisch, noch nicht einmal Arabisch, die Amtssprache im Irak. Sein ganzes bisheriges Leben hat er im Kurdengebiet verbracht. Da genügte seine kurdische Muttersprache. Er deutet auf das nächste Foto. Es zeigt einen Peschmergakämpfer in Uniform. „Mein Bruder“, sagt er auf Arabisch, eines der wenigen Worte, das er beherrscht. Mit einer Geste zum Hals zeigt er: Der Bruder ist tot. „Daesch“, erklärt er, gefallen im Kampf gegen den IS. Für Salim Aziz ist er ein Märtyrer, der für Kurdistan sein Leben gab.

Der Tod des Bruders markiert eine Zäsur im Leben von Salim Aziz. Er beschloss damals, die Heimat zu verlassen. Ein Dolmetscher übersetzt seine Geschichte später in einem Böblinger Café. Der Vater war gefallen, und der Bruder. Die Angst, der Nächste zu sein, der sein Leben lassen muss im Krieg gegen die Islamisten, trieb Salim Aziz fort. Hinzu kam: der kurdische Staat kann seine Soldaten nicht mehr bezahlen. Viele Kämpfer wie Aziz verlassen das Land.

Jetzt, keine sechs Monate nach seiner Ankunft, will er wieder zurück, bevor sein Asylantrag überhaupt entschieden ist. Jeden Tag kann es losgehen. Ungeduldig wartet Aziz auf das Signal der Rückkehrberaterin des Landratsamts. Sie organisiert den Flug. Geld dafür gibt es aus den sogenannten Reag/Garp-Rückkehrerprogrammen von Land und Bund. „Ich schicke die Leute nur mit sicheren Flügen, die die Internationale Organisation für Migration bucht“, berichtet eine Expertin der Kreisbehörde. Sie möchte anonym bleiben – aus Sorge, dass ihr Name sonst bald in irgendwelchen rechten Netzwerken kursiert. „Die IOM hat Verträge mit sicheren Fluglinien, die Rückkehrer werden am Flughafen abgeholt und zu ihren Familien gebracht“, sagt sie. Finanziert werde die IOM aus Spenden – das ist der Beraterin wichtig zu sagen.

Rückkehr in den Krieg und in die Not

524 Ausländer, davon 90 Prozent Flüchtlinge, haben im vergangenen Jahr mit einem der Rückkehrprogramme den Kreis Böblingen wieder in Richtung Heimat verlassen, das sind mehr als fünf Mal so viele wie noch zwei Jahre zuvor. 6309 Rückkehrer waren es laut dem Karlsruher Regierungspräsidium aus ganz Baden-Württemberg, drei Mal so viele wie noch 2013. Der überwiegende Teil davon waren Migranten vom Westbalkan, deren Asylanträge abgelehnt wurden und die einer Abschiebung zuvorkommen wollten.

Immer öfter gehen jetzt auch Asylbewerber, die wie Salim Aziz gute Aussichten darauf haben, bleiben zu dürfen. Sie kehren freiwillig zurück in Länder, in denen Krieg herrscht oder große Not, vor der sie geflohen sind. Wie Aziz zieht es viele in den Irak zurück. Bereits 1400 Iraker haben sich zwischen November und Mitte Januar bei der irakischen Botschaft in Berlin Pässe für ihre Rückkehr ausstellen lassen, meldete kürzlich die Nachrichtenagentur Reuters.

Warum wollen sie zurück in ein Land, in dem jederzeit Anschläge des IS drohen? In ein Land ohne soziale Absicherung wie Kranken- und Rentenversicherung? Ohne Aussicht auf einen Job?

Die Sehnsucht nach der Familie sei ein Hauptgrund, erzählt die Beraterin des Böblinger Landratsamts. Und sie berichtet von einem schwer kranken Afrikaner, dem sie vor zwei Jahren die Heimreise ermöglichte – begleitet von einem Arzt der Organisation Melonet, die auf medizinische Flugbegleitung spezialisiert ist. Die Melonet-Mitarbeiter schickten Fotos, die den kranken Mann in der Heimat im Kreise seiner glücklichen Familie zeigen. Von solchen Erfolgserlebnissen zehrt die Beraterin, denn von den meisten Auswanderern, die sie betreut hat, hört sie nie wieder etwas.

Sein Wunsch, rasch Arbeit zu finden, scheint unerfüllbar

Doch sie lehnt auch Anträge ab. „Wenn wir den Eindruck haben, dass jemand nur ausreist, um dann irgendwann wieder einzureisen.“ Die Motive der Auswanderer würden mit großer Sorgfalt geprüft. Mindestens eine Stunde dauert ein solches Gespräch, ein Dolmetscher ist immer dabei.

An den Motiven von Salim Aziz zweifelt die Beraterin im Landratsamt nicht. „Er hatte sich das hier anders vorgestellt.“ Seine Hoffnung, bald die Familie nachzuholen zu können, ist in weite Ferne gerückt. Der Wunsch, rasch Arbeit zu finden, scheint unerfüllbar. Die Situation sei für einen Mann, der fast keine Bildung genossen habe, schwierig – in Deutschland genauso wie im Irak. „Aber dort gibt es wenigstens den Familienzusammenhalt.“

„Meine Familie ruft“, antwortet Salim Aziz auf die Frage nach dem Warum seiner Rückkehr, und Tränen schimmern in seinen Augen. Er erzählt vom Tod eines zweiten Bruders, gefallen im Kampf, während Salim Aziz bereits in Deutschland war. „Jetzt gibt es nur noch einen Bruder, der kann aber nicht allein die Großfamilie versorgen. Da muss ich helfen.“ Salim Aziz hat nun nicht nur die Verantwortung für seine Frau und seine vier Kinder, er ist jetzt auch das Oberhaupt für die Familien seiner gefallenen Brüder. Diese Verantwortung lastet schwer auf seinen Schultern. Doch eine Wahl hat er nicht.

Salim Aziz genießt die Sicherheit in Deutschland

Die Großfamilie von Aziz lebt im Großraum Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. Sie gilt zwar als boomende Wirtschaftsmetropole, doch nun hat der Ölpreisverfall die Entwicklung gestoppt. Die kurdische Regierung zahlt seit mehr als sechs Monaten weder den Lehrern das Gehalt noch Sold an die Soldaten. Anfang dieses Jahres wurde bekannt, dass immer mehr Peschmergakämpfer ihre aus Deutschland stammenden Waffen verkaufen, um sich damit die Flucht in das sichere und reiche Europa zu finanzieren.

Salim Aziz genießt diese Sicherheit. „Hier habe ich keine Angst. Die Menschen sind alle freundlich. Ich habe Essen, Kleidung und eine Wohnung.“ Wie will er im Irak seine Familie ernähren – ohne Ausbildung? Er zuckt mit den Schultern: „Mal sehen“, sagt er. „Vielleicht mache ich einen Laden auf. “ Ein wenig Startkapital bringt er mit, wie viel, verrät er nicht. Freiwillige Rückkehrer erhalten aus den Programmen von Land und Bund unter bestimmten Voraussetzungen eine Überbrückungshilfe. Für den deutschen Staat eine durchaus lohnende Investition – vor allem, wenn Menschen gehen, die von Sozialhilfe leben. Bis zu 1500 Euro pro Erwachsener sind drin, 1000 Euro für ein Kind. Doch längst nicht jeder erhält den vollen Betrag. „Das ist individuell, und Rückkehrer auf den Balkan bekommen nichts“, sagt die Beraterin des Landratsamts. Das Geld soll kein Anreiz sein für einen Ausflug nach Deutschland.

Eine kurze Episode am Sehnsuchtsort

Für Salim Aziz war Deutschland ein Sehnsuchtsort, der eine bessere Zukunft versprach. Doch nun wird es nur eine kurze Episode in seinem Leben gewesen sein. Eine gute Episode in einem freundlichen, reichen Land. Fotos zeugen davon. Sie zeigen ihn allein vor dem Leo-Center in Leonberg, gemeinsam mit seinen Zimmergenossen im Flüchtlingsheim und zusammen mit dem Dolmetscher und der Journalistin auf dem Elbenplatz in Böblingen.

Nur noch wenige Tage, dann geht der Flieger nach Erbil. Wann, das entscheidet sich meist sehr kurzfristig – je nachdem, wann der Luftraum über den umkämpften Gebieten im Irak frei ist. Dann gibt die Beraterin des Landratsamts das Startzeichen. Salim Aziz hat seine Habseligkeiten schon längst gepackt. Ungeduldig wartet er auf das Signal zum Abflug.

Bald, sehr bald wird Salim Aziz in Erbil sein bei seiner Familie. Vielleicht sitzt er dann dort in einer Wlan-Zone und schaut sich auf seinem elektronischen Tagebuch die Fotos an – von der kurzen Episode eines sicheren Alltags in Leonberg.