Eine junge Kurdin landet nach einer Odyssee in Deutschland. Dass sie nach kurzer Zeit eine berufliche Perspektive findet, verdankt sie auch der frühzeitigen Unterstützung deutscher Behörden.

Heidelberg - Das Smartphone war lange Zeit ihr einziges Fenster zur Welt, bevor es zu ihrem zuverlässigsten Fluchthelfer wurde. Heute sind darauf vor allem Erinnerungen an ihr altes Leben gespeichert. Das neue Leben liegt vor ihr – und es wird aller Voraussicht nach fundamental anders. Zwischen dem schlimmsten und dem schönsten Moment im Leben von Jamila Benazir (Name geändert) lagen nur fünf Tage. Fünf Tage, die die 19-jährige Irakerin in Bussen und Zügen verbracht hat, meistens wach, allenfalls kurz in einen unruhigen Halbschlaf verfallend und immer fröstelnd: „Es war kalt und schlafen konnte ich nicht“, sagt sie in perfektem Englisch und mit angespannter Mine. Zu Beginn dieser Reise, die Jamila, zwei Schwestern, den jüngsten Bruder und ihre Mutter durch halb Osteuropa führte, stand eine vage Aussicht auf Besserung.

 

Ausgangspunkt war ein Flüchtlingslager irgendwo in Bulgarien, in dem die Familie bereits seit mehr als zwei Monaten in menschenfeindlichen Zuständen ausharren musste. „Ich dachte, wir kommen nie wieder dort weg“, sagt sie. Dabei war die Familie, muslimische Kurden aus der teilautonomen Region Nordirak, mit großen Erwartungen auf ein Leben in Freiheit zuhause aufgebrochen. Der in der Heimat zurückgebliebene, überwiegend männliche Teil der Familie ist mit Attributen wie traditionell und patriarchisch wohl noch zu milde beschrieben. Jamila erzählt auch diesen Teil der Geschichte, möchte aber nicht, dass der Gesprächspartner ihn später aufschreibt.

Erst der vierte Versuch führt die Familie über die türkische Grenze

Auch in Bulgarien gibt es Männer, die das Leben und die Flucht der vier Frauen und des kleinen Jungen erschweren: Schon die Einreise auf dem Fußweg war kostspielig, gefährlich und mühsam: Erst der vierte Versuch habe sie schließlich erfolgreich über die türkisch-bulgarische Grenze geführt. „Wir wurden drei Mal verhaftet und wieder ausgewiesen“, sagt sie. Die Papiere hat ihnen ein Schlepper abgenommen und vermutlich weiterverkauft. Ein Versuch, mithilfe eines anderen wieder aus dem Land heraus zu kommen, scheitert. „Er hat unser Geld genommen und ist einfach davon.“ Es ist der schlimmste Moment – kurz bevor es doch weitergeht. Dass Bulgarien nicht zur Endstation ihrer Flucht wurde, verdanken sie der Unterstützung eines Mitflüchtlings.

Nach fünf rastlosen Tagen auf der Balkanroute passierte die Familie schließlich die Grenze nach Bayern. Das Datum ist auf ewig in Jamilas Gedächtnis gespeichert: „28. November“, sagt sie und lächelt befreit. Das ist der schönste Moment; sie beschreibt ihn nüchtern: „Es war bereits dunkel als wir München erreichten und nach einer kurzen Pause wurden wir gleich weiter nach Heidelberg gebracht, wo wir mitten in der Nacht ankamen.“ Wie erlebte sie dieses Ankommen? Nun lächelt sie etwas verlegen: „Ich wusste in diesem Moment nicht, ob es gut war, aber es fühlte sich gut an.“ Welche Last von der Familie abgefallen sein muss, lässt die Reaktion der Mutter erahnen, die kurz nach der Ankunft im Heidelberger Patrick-Henry-Village zusammenbricht.

In der ehemaligen US-Kaserne in Heidelberg entsteht eine Stadt in der Stadt

Auf dem Gelände der ehemaligen US-Kaserne waren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im November und Dezember 2015 bis zu 6000 Menschen gleichzeitig untergebracht. Eine Stadt in der Stadt. Heute, fast auf den Tag genau fünf Monate nach ihrer Ankunft, ist die junge Frau noch einmal hierhin zurückgekehrt. Die Familie lebt mittlerweile in einem Hotel in der Region, in dem außer ihr nur noch vier weitere Flüchtlingsfamilien und einige alleinstehende Männer untergebracht sind. An Heidelberg hat sie trotz der widrigen Umstände gute Erinnerungen. Wahrscheinlich nahm ihr Leben hier eine entscheidende Wendung.

Die Wiedersehensfreude ist groß, als Jamila auf André Ekama zugeht. Der 48-jährige gebürtige Kameruner, dessen eigene Flucht nach Deutschland dreißig Jahre zurückliegt, steht seit 2015 in Diensten der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Baden-Württemberg. Er ist einer von zwei Vermittlern, die ihr Büro direkt im Patrick-Henry-Village haben. Damit ist die BA Teil eines Pilotprojektes, des ersten sogenannten landesweiten Registrierzentrums: Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich der praktische Ansatz, die Zeit zwischen der Aufnahme eines Flüchtlings mit Registrierung über den Gesundheitscheck bis zum Stellen des Asylantrags auf engstem Raum zu vereinen, inklusive Sprachkursangeboten sowie frühzeitiger Qualifikationserfassung und ersten Schritten zur Arbeitsvermittlung. Das Projekt von Land und Stadt Heidelberg wurde gerade bis April 2017 verlängert. Im Erfolgsfall könnten andere Bundesländer nachziehen.

Die Arbeitsagentur im Südwesten setzt damit auch das Ende 2015 ausgelaufene Projekt Early Intervention fort, nicht nur hier, aber nirgendwo in ähnlicher Größenordnung. Dabei machen Vermittler bereits in den Aufnahmeeinrichtungen gut qualifizierte Männer und Frauen ab 18 Jahren ausfindig, um deren Potenzial für den Arbeitsmarkt frühzeitig zu erschließen. Für einen vergleichsweise kleinen Kreis verringert sich damit die leidige Wartezeit. Neben beruflicher Qualifikation und persönlicher Motivation ist die Sprache das wichtigste Auswahlkriterium. Das trifft auch auf Jamila zu – allerdings war es in ihrem Fall ausnahmsweise nicht Deutsch. Die 19-Jährige spricht drei Sprachen fließend: Englisch, Kurdisch und Arabisch. In ihrer Heimat ist sie zwölf Jahre zur Schule gegangen und besitzt einen Abschluss vergleichbar mit dem Abitur.

Die beiden kurdischen Mädchen übersetzen für die deutschen Helfer

„Sie und ihre ältere Schwester sind gleich am Anfang auf uns zugekommen und haben uns ihre Hilfe beim Übersetzen angeboten“, erinnert sich André Ekema. Heute, wo noch gut 1500 Menschen in der früheren Wohnsiedlung der amerikanischen GIs und ihrer Familien untergebracht sind, fällt es nicht schwer, sich die Zustände im Heidelberger Camp vorzustellen, als deren Zahl um ein Vielfaches höher war. „Es gab anfangs wenig Wasser und es lag viel Müll herum, aber wir waren glücklich“, sagt Jamila. Das Registrierzentrum geriet damals wegen Massenschlägereien infolge der schlimmen Zustände in die Schlagzeilen. In dem Durcheinander unterstützten die beiden Kurdinnen die Vermittler, bevor sich für Jamila die Chance auftat, selbst von der Vermittlung zu profitieren.

Seit März nimmt sie mit 13 anderen jungen Zuwanderern an einem fünfmonatigen Programm zur Studienvorbereitung in Mannheim teil: Täglich von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags hat sie Unterricht in Mathematik, Physik, deutscher Sprache und Kultur. Außerdem kann sie ihr Englisch-Sprachniveau von B2+ auf C1, der zweithöchsten Stufe, verbessern. Im August beginnt sie ein dreijähriges Duales IT-Studium in Mannheim. Praxispartner und ihr künftiger Arbeitgeber ist der Walldorfer Softwarekonzern SAP, der bereits das Studienkolleg initiiert hatte. Die Vorlesungen werden im ersten Jahr nur auf Englisch gehalten, daneben gibt es spezielle Deutschkurse für die ausländischen Studenten. Ab dem zweiten Jahr wird jeweils zur Hälfte auf Deutsch und auf Englisch unterrichtet.

Wie sie sich ihre Zukunft vorstellt? „Es ist alles möglich“, sagt Jamila und grinst. Sie wollte schon Sportkurse an ihrer künftigen Hochschule belegen, das sei aber leider erst zum Semesterbeginn im Sommer möglich. Dann wird sie sich anmelden, neue Freunde kennenlernen, vieles von dem vergessen, was hinter ihr liegt, manches Ereignisse aus diesen bewegten Tagen aber auch ein Leben lang in Erinnerung behalten.