In Deutschland scheint die Stimmung vorzuherrschen, die Flüchtlingskrise sei vorbei. Doch noch immer kommen täglich Hunderte Migranten nach Europa. Italien wird damit von der EU allein gelassen. Was auf lange Sicht neue Probleme und Krisen schafft. Eine Analyse.

Rom - In Teilen der Europäischen Union atmet man bereits vorsichtig auf: Ist es vorbei? Es scheint zumindest so. Auch in Deutschland: Die Schulen bekommen ihre Turnhallen zurück, eilig erbaute Flüchtlingsunterkünfte stehen leer und wie ein Fragezeichen an die Politik in der Landschaft. Erfreulich ist, dass in diesem Jahr auch die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte gesunken ist – es sind nun etwa wieder so viele wie vor der Krise. Die Lage habe sich allgemein entspannt, heißt es.

 

Vor der Krise – das klingt optimistisch. Wenn bereits von einem „vor der Krise“ die Rede ist, dann kann das „nach der Krise“ ja nicht mehr weit sein. Manch einer in Berlin und Brüssel wähnt sich bereits in dieser Post-Phase. Und damit in einem gefährlichen Trugschluss.

Falscher Ansatz: Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Migrationskrise ist mitnichten beendet. Nur ein kurzer Blick nach Italien würde reichen, um zu erkennen, dass sie stattdessen auf einen neuen Höhepunkt zusteuert. Der findet nur dieses Mal nicht am Münchener Hauptbahnhof statt, sondern an den Häfen Siziliens. Dort kommen keine Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien an, sondern vor allem Menschen aus Afrika – die vor politischer Verfolgung oder Armut fliehen. Seit neustem steht Bangladesch auf Platz zwei der Herkunftsländer derjenigen, die hauptsächlich aus Libyen über das Mittelmeer kommen. Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, die dafür ihr jetziges in die Hände skrupelloser Schlepper legen.

Der „aus den Augen, aus dem Sinn“, der im Rest Europas auf dem Vormarsch zu sein scheint, ist da der falsche. Einmal ganz abgesehen von den Tragödien, die sich tagtäglich auf dem Mittelmeer abspielen, führt das Ignorieren der aktuellen Umstände dazu, dass heimlich, still und leise eine neue Welle von Problemen auf Europa und damit auch auf Deutschland zurollt.

84 Prozent aller Migranten, die über das Meer Europa erreichen, landen aktuell in Italien. Allein in der ersten Maiwoche waren es fast 4000. Mehr als 43000 Menschen sind 2017 bereits über das Mittelmeer nach Italien gekommen, fast 40 Prozent mehr als im selben Zeitraum im vergangenen Jahr. Dabei war 2016 mit 181436 Ankömmlingen bereits ein Rekordjahr. Und die „gute Jahreszeit“ für die Überfahrt kommt erst noch.

Italien befolgt die EU-Regeln, und wird von diesen überrumpelt

Italien befindet sich in einer Zwickmühle. Anders noch als in den Jahren 2014 und 2015 wird nahezu jeder Migrant in den Hotspots registriert. Die Italiener befolgen damit die Regeln der EU - und werden von diesen gleichzeitig überrumpelt. Denn die Dublin-Regeln besagen, dass ein Flüchtling in dem Land Asyl beantragen muss, in dem er die EU zum ersten Mal betreten hat, also in dem er als erstes registriert wurde. Ein Abkommen, über dessen Sinn oder besser Unsinn seit Jahren diskutiert, an dem aber stoisch festgehalten wird.

In Deutschland ist derweil die Erleichterung groß: Es gibt kaum mehr Weiterreisen aus Italien gen Norden, die Grenzen sind für die Flüchtlinge quasi dicht. Bis Ende April wurden außerdem allein aus Deutschland 371 so genannte Dublin-Fälle zurück nach Italien überstellt. Die EU feiert sich derweil selbst für ein vielzitiertes aber wenig erträgliches Programm, das ihre angebliche Solidarität unter Beweis stellen soll: 160000 Menschen sollten bis September 2017 aus Griechenland, Italien und der Türkei in andere EU-Staaten umgesiedelt werden, davon allein 40.000 aus Italien. Bis Anfang Mai wurden gerade einmal rund 5400 Asylbewerber aus Italien in ein anderes EU-Land umgesiedelt. 1814 davon kamen nach Deutschland, das damit allen anderen EU-Staaten weit voraus ist.

Italien darf nicht alleine gelassen werden

Doch das Problem bleibt. Denn auch die Aufnahmekapazität Italiens hat ihre Grenzen. „Diese Partie wird außerhalb nationaler Grenzen gespielt“, sagte Innenminister Minniti in dieser Woche. „In Europa und in Afrika. Heute und in den kommenden 15 Jahren.“ Ein Satz, der Gehör finden und die Suche nach gemeinsamen und sinnvollen Lösungsansätzen in Gang setzen sollte. In Brüssel, in Berlin und in Paris aber auch in Budapest und Warschau. Sonst greifen sich am Ende die Verantwortlichen erneut an den Kopf, weil sie es wieder nicht haben kommen sehen. Dabei müssten sei einfach nur die Augen aufzumachen - und in die richtige Richtung zu schauen: nach Italien.