Flüchtlinge, die nur subsidiären Schutz genießen, dürfen ihre Familien nicht nachholen. Darunter leiden viele der Betroffenen. Die Liga der freien Wohlfahrtspflege fordert, dass dies geändert wird. Nicht nur aus humanitären Gründen. Auch die Integration klappe mit Familie besser.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Man kann sagen: Alaa Scheick Qatana hat alles richtig gemacht. Ende September 2015 ist er in Deutschland angekommen, auf der Flucht vor dem Krieg in seiner Heimat. Obwohl er seine schwangere Frau zurücklassen musste, trotz der unsicheren Verhältnisse hat der Syrer den Kopf nicht hängen lassen. Er hat recht gut Deutsch gelernt, inzwischen eine Arbeit, als Teamassistent bei einer Krankenversicherung kümmert er sich um die Anliegen von Geflüchteten. Seit August lebt er in einer eigenen Wohnung. Er kommt selbst für sich auf.

 

„Ich habe alle drei Schritte gemacht, die man von mir erwartet“, sagt Alaa Scheick Qatana. „Was soll ich denn noch machen?“ Er zeigt auf sein weißes T-Shirt, es ist bedruckt mit einem Foto seiner Tochter Silina. Zwei Tage nach seiner Ankunft in Deutschland wurde sie geboren. „Sie ist jetzt zwei Jahre alt – ich habe sie bis jetzt nur auf dem Foto gesehen“, klagt der Syrer. Er leidet sehr unter der Trennung von seiner kleinen Familie, jeden Tag hat er Angst um Frau und Kind. Sie wohnen in Damaskus, wo das Leben alles andere als normal sei. „Da fallen jeden Tag Bomben“, sagt er.

Recht auf Einheit der Familie im Grundgesetz

Alaa Scheick Qatana gehört zu jenen Geflüchteten aus Syrien, denen der Familiennachzug verwehrt ist, weil sie nur einen sogenannten subsidiären Schutz genießen. „Das Recht auf die Einheit der Familie steht in unserem Grundgesetz“, sagt Fritz Weller. Der Bereichsleiter Migration und Integration bei der Stuttgarter Caritas hält es deshalb für „skandalös“, wie man dieses Recht für diese Gruppe von Flüchtlingen aus politischen Gründen „verunmöglichen will“. Womöglich über den März 2018 hinaus, bis dahin gilt die für zwei Jahre verfügte Aussetzung des Familiennachzugs.

Das wollen die sechs im baden-württembergischen Landesverband der Liga der freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossenen Sozialverbände nicht hinnehmen. Mit der Aktionswoche „Recht auf Familie – Integration braucht Familienzusammenführung“ machen sie bis zum 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, darauf aufmerksam. Es sei nicht nur ein „Gebot der Humanität“, auch dieser Gruppe von Flüchtlingen den Familiennachzug zu gewähren, sagt Fritz Weller, der Sprecher des Stuttgarter Liga-Fachausschusses Migration ist. „Die Integration funktioniert viel besser, wenn die Familie hier ist.“

Shukri Musa, ein 37 Jahre alter Kurde aus Syrien, leidet offensichtlich unter seiner Lage. „Was soll man machen, wenn die Gedanken woanders sind“, sagt der Elektroingenieur. Drei seiner Kindern sind mit der Mutter in der Türkei, das vierte Kind noch bei seinem Bruder in Syrien. Musa weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Kritik an „Horrorzahlen“

Selbst für die Betreuer sei das alles manchmal nur schwer zu ertragen, sagt Anja Braun. „Ich erlebe bei vielen Flüchtlingen, dass sie keine Kraft mehr haben, weil die psychische Belastung, dass die Familie in Not ist, so groß ist“, erzählt die Sozialarbeiterin. Immer wieder gebe es Fälle von Depressionen unter den Betroffenen.

Fritz Weller empört, wie das Thema in der Bundespolitik debattiert werde. Einige Parteien machten „mit absolut unseriösen Horrorzahlen“ Stimmung gegen den Familiennachzug. CDU und CSU sprachen in der Jamaikasondierung von bundesweit bis zu 300 000 möglichen Nachzügen. Die AfD redet gar von zweieinhalb Millionen zusätzlichen Flüchtlingen in einem Jahr.

Die Liga der freien Wohlfahrtspflege hält sich an eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Nach deren Berechnungen kämen zu den ohnehin zum Nachzug berechtigten 100 000 bis 120 000 Ehepartnern und Kindern von anerkannten Asylbewerbern und Flüchtlingen nochmals 50 000 bis 60 000 Familienmitglieder von Geflüchteten mit nur subsidiärem Schutz. Viele Geflüchtete seien jung „und häufig ledig“, heißt es in der Studie. „Die Mehrzahl der Ehepartner und Kinder befindet sich bereits in Deutschland.“ Fritz Weller schätzt, dass im Land nur zusätzlich etwa 7500 Menschen nachziehen würde, in Stuttgart vielleicht 400 bis 500.

Viele Formalitäten kosten Zeit

Wenigstens Ahmed Shouaib könnte sich freuen. Der 37 Jahre alte Koch aus Aleppo hat seit wenigen Tagen die Anerkennung als Flüchtling. Jetzt kann er endlich seine Frau und seine fünf Kinder nachholen, die im Libanon ausharren. Erleichtert ist der Syrer dennoch nicht. „Bis die Familie da ist, kann das noch mal zwei Jahre dauern“, sagt Sozialarbeiterin Anja Braun. Die Formalitäten haben es in sich. Das weiß Ahmed Shouaib. Mit ernstem Blick sagt er über Frau und Kinder: „Sie leben in einem Zeltlager – und jetzt kommt der Winter.“