Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat an die Bürger der Stadt appelliert, am liberalen Stuttgarter Geist festzuhalten. Auch wenn es durch die steigenden Flüchtlingszahlen enger werde, „Hass dürfe hier nicht Platz greifen“.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Jeder Flüchtling, der die Grenze nach Deutschland überschreitet, kommt irgendwann in einer Kommune dieser Republik an. Weil man allerorten schon jetzt händeringend nach Unterkünften für Asylbewerber sucht, ist die Spannung groß, welche lokalen Auswirkungen die neueste Prognose von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat, nach der in diesem Jahr nicht 450 000, sondern bis zu 800 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden.

 

Es war also nur konsequent, dass Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) gleich einen Tag nach der Bekanntgabe der neuesten Zahlen in Berlin selbst vor die Medien trat. Wer freilich erwartet hatte, eine revidierte Flüchtlingsstatistik für die Landeshauptstadt vorgelegt zu bekommen, wurde enttäuscht. Kuhn ließ sich nicht entlocken, ob aus den bisher angenommenen 307 Neuankömmlingen pro Monat tatsächlich rund 500 werden könnten, eine Zahl, die sich aus der Anwendung der Verteilungsschlüssel rechnerisch ergibt. „Es werden mehr werden“, sagte der Oberbürgermeister. Mehr könne man gegenwärtig nicht sagen, aber man hoffe, dass das Plus moderat ausfallen werde.

Das Land plane derzeit 10 700 zusätzliche Erstaufnahmeplätze

Der Grüne Fritz Kuhn setzt darauf, dass die grün-rote Landesregierung ihre Ankündigung wahr macht und in nächster Zeit die Kapazität in ihren Erstaufnahmestellen deutlich erhöht. Dann könnten insbesondere Asylbewerber vom Westbalkan, also aus Ländern wie Serbien, Bosnien-Herzegowina sowie dem Kosovo, deren Anerkennungsquote gegen null geht, in den Landeseinrichtungen bleiben, bis ihre Verfahren abgeschlossen sind und sie die Rückreise antreten müssen. Das Land plane derzeit 10 700 zusätzliche Erstaufnahmeplätze, rechnete Kuhn vor. Und er fügte noch hinzu: „Wer abgelehnt wird, den muss man dann auch schnell abschieben.“ Offenkundig wollte Stuttgarts Oberbürgermeister bei seinem Presseauftritt aber auch übertriebenen Befürchtungen in der Bevölkerung entgegentreten. „Wir sind hier, um klar zu sagen, wie wir die Lage einschätzen“, erklärte Kuhn. Die sei eben so, dass es „weder etwas zu verharmlosen noch etwas zu dramatisieren gibt“. Natürlich werde es nicht einfacher werden, geeignete Flächen für neue Flüchtlingsunterkünfte zu finden. Doch der OB ist überzeugt: „Auch wenn die Verhältnisse schwieriger werden – wenn wir alle zusammenstehen, Bürgerschaft, Vereine, Kirchen, Wirtschaft, können wir das bewältigen.“

Kuhn: „Hass und Feindlichkeit dürfen hier nicht Platz greifen“

Der Oberbürgermeister rief die Menschen dazu auf, am liberalen „Stuttgarter Geist“ festzuhalten. Auch wenn es durch die steigenden Flüchtlingszahlen etwas enger werden und Schwierigkeiten auftreten könnten. „Hass und Feindlichkeit dürfen hier nicht Platz greifen“, beschwor Kuhn die Bürger der Stadt. Man dürfe die Dinge nicht schönreden. „Aber es gibt auch keinen Anlass für Hysterie.“

Von Überlegungen, wie sie sein Tübinger Amtskollege Boris Palmer anstellt, womöglich auf dem Wege von Beschlagnahmungen zu mehr Wohnraum für Flüchtlinge zu kommen, hält Stuttgarts OB nichts. Natürlich werde man auch mit Hauseigentümern sprechen, deren Gebäude leer stehen, sagte Kuhn. Und er appellierte an die Stuttgarter, darüber nachzudenken, „ob sie jemanden unterbringen könnten“. Aber mit Maßnahmen zu drohen, die rechtlich vielleicht nicht einmal tragfähig seien, „davon halte ich wenig“. Ähnlich dürfte sein Urteil lauten über die Forderung der Linksfraktion im Rat, den Eiermann-Campus in Vaihingen, der gar nicht im Eigentum der Stadt ist, dem Land als Erstaufnahmestelle anzubieten und den Komplex gegebenenfalls zu beschlagnahmen.

Dass der Bund die Dauer der Asylverfahren drastisch verkürzt ist das A und O

Für das A und O bei der Bewältigung der angespannten Lage hält der Oberbürgermeister, dass der Bund die Dauer der Asylverfahren drastisch verkürzt. „Bei denen, die keine Chance haben, müssen die Zeiten von jetzt im Schnitt 6,7 Monaten auf drei Monate runter.“ Und deutliche Worte fand Fritz Kuhn auch in Richtung Brüssel. In der EU müsse das Problem endlich angenommen werden. Der Oberbürgermeister forderte einen europäischen Verteilungsschlüssel. Es könne nicht sein, dass einige EU-Mitglieder sich beim Thema Flüchtlingsaufnahme sagten, Deutschland und Schweden machten das schon.

An die Adresse Berlins erging die Forderung, die Kosten für die Unterbringung von Flüchtlingen künftig komplett zu übernehmen. So sind für die Jahre 2016 und 2017 im städtischen Haushalt Betreuungsausgaben von 25 beziehungsweise 42 Millionen Euro vorgesehen. „Die Kosten für die soziale Betreuung und für die Administration darf man nicht unterschätzen“, betonte der Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU). Trotz der angespannten Lage will die Landeshauptstadt am Stuttgarter Weg festhalten. Die Unterkünfte sollen weiterhin dezentral in den Bezirken gebaut werden und möglichst nicht mehr als 250 Plätze haben. Der Fall Bürgerhospital, wo für eine Übergangszeit bis zu 600 Asylbewerber unterkommen, soll die Ausnahme bleiben. Wobei Kuhn wie Föll deutlich machten, dass dies von den tatsächlichen Zuweisungen durch das Land abhängen werde. Schon nach den alten Zahlen fehlten bis Ende des Jahres noch 700 Plätze, im kommenden Jahr müssen weitere 900 geschaffen werden. Würden die Zugänge von Flüchtlingen sehr stark nach oben gehen, will Michael Föll auch nicht ausschließen, „dass wir im Winter zu Notunterkünften greifen müssen“. Ob dies dann Turnhallen oder Waldheime sein könnten, dazu äußerte Föll sich nicht. Der Finanzbürgermeister warb angesichts der großen Zwänge für Verständnis bei all jenen Menschen, die von Bauprojekten betroffen sind.

Die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge ist groß

Nach wie vor ist in Stuttgart die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge groß. Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) sagte, „deutlich mehr als 1300 Menschen engagieren sich ehrenamtlich – und diese Zahl steigt täglich“. Die Stadt bietet auch Flüchtlingen im Asylverfahren schon Deutschkurse an, so dass die Integration früh beginnt. Langfristig werde es darum gehen, betonte Fezer, „dass die Flüchtlinge nicht nur menschenwürdig behandelt, sondern auch akzeptiert werden“.