Eigentlich ist er Hausmeister bei der Kreisbaugesellschaft Rems-Murr. Doch weil in den Gebäuden des Landkreises zunehmend Flüchtlinge untergebracht sind, ist Nagim Amery nebenbei auch Sozialarbeiter, Ersatzpapa, Dolmetscher und noch einiges mehr.

Waiblingen - Die Zeiten, zu denen Nagim Amery den größten Teil seiner Arbeitstage sitzend verbracht hat, sind vorbei. Inzwischen ist er von früh bis spät auf den Beinen. Sitzen – dazu kommt der 52-Jährige oft den ganzen Tag nicht. Denn seit einiger Zeit arbeitet er nicht mehr als Fahrer bei einer Spedition, sondern als Hausmeister bei der Kreisbaugesellschaft Rems-Murr. Weil die Zahl der Flüchtlinge in den vergangenen Monaten so stark zugenommen hat, dass auch Sporthallen als Unterkünfte genutzt werden müssen, ist Nagim Amery, der die Sporthalle des Waiblinger Berufsschulzentrums und weitere fünf Objekte betreut, nicht nur Hausmeister, sondern nebenbei Sozialarbeiter, Dolmetscher, Ersatzpapa, Freizeitgestalter, Umzugshelfer und noch einiges mehr.

 

Ruhe ist kostbar bei 120 Bewohnern

Ein kühler, nebliger Morgen, es ist kurz vor acht Uhr und Nagim Amery hat längst eine Runde um die Waiblinger Sporthalle gedreht und einen prüfenden Blick in die Container geworfen, in denen Wäsche gewaschen und Essen gekocht wird. „Die Herde müssen sauber sein, wegen der Feuergefahr“, erklärt er. Dann steuert er auf den Eingang der Halle zu. Rechts steht ein windschiefer Pavillon. „Für die Raucher“, sagt Nagim Amery, der seine Gäste aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Albanien und Afrika immer wieder erinnern muss, dass Rauchen in der Halle tabu ist.

Leise öffnet Nagim Amery die Hallentür, um möglichst niemanden zu stören. Ruhe ist kostbar in einer Unterkunft, in der 120 Männer im Alter zwischen 16 und 50 Jahren leben, ohne dass eine Wand zwischen ihnen die Geräusche dämpfen könnte. Die Zimmerdecke, das ist die Hallendecke, die Zimmerwände sind Bauzäune, die mit grobem Stoff bespannt sind. Sie sollen die jeweils acht Bewohner pro Einheit zumindest vor Blicken schützen. Wenn Nagim Amery jemanden im Zimmer sprechen möchte, bleibt er höflich vor den bunten Tüchern stehen, die als Türen dienen. So viel Respekt muss sein, findet er.

Amery geht durch den langen Gang, der an Umkleidekabinen und Sanitärräumen vorbei führt. Irgendwo schnurrt der Motor eines Rasierapparats, Wasser rauscht in einer Dusche. Der Boden des Flurs glänzt feucht, es riecht zitronig, nach Putzmittel. Nagim Amery biegt um die Ecke, wo ein Bewohner der Halle – Wischmopp in den mit Plastikhandschuhen geschützten Händen – sauber macht. 1,05 Euro Stundenlohn bekommen Nagim Amerys Helfer. „Jeder hat seinen Bereich“, sagt der 52-Jährige und begrüßt Ibrahim, den Chef der Reinigungstruppe, mit Handschlag. 8 Uhr. „Laut Vorschrift muss jetzt das Licht an sein“, erklärt Amery. Die Deckenbeleuchtung taucht die Halle in ein gleißend helles Licht. Gemütlich ist anders.

Vom IT-Ingenieur bis zum Boxprofi

Nagim Amery kennt seine Leute beim Namen, weiß ihre Berufe: „Hier gibt es alles, vom IT-Ingenieur über den Arzt bis zum Boxprofi.“ Für ihn ist klar: „Das sind Menschen in Not, einer wie der andere.“ „Gim“ nennen sie ihn, manche sprechen ihn respektvoll mit „Abu Yussuf“ an – „Vater von Yussuf“. Seinen neunjährigen Sohn bringt Nagim Amery ab und zu in die Halle mit, auch seine drei Töchter, die 18, 15 und sechs Jahre alt sind. „Meine älteste Tochter hilft mir beim Französisch“, sagt Nagim Amery. Er spricht als gebürtiger Afghane die beiden Amtssprachen seines Heimatlands, Paschtu und Dari, also Persisch. „Arabisch sprechen die meisten hier mit Akzent“, sagt Amery, der sich mit Händen und Füßen verständigt. „Aber die Mentalität verstehe ich – in zwei Minuten kommen wir klar, den Vorteil habe ich.“ Für jeden Bewohner hat der Hausmeister einige freundliche Worte parat – und für manche auch mahnende, etwa für jene, die er beim Schulschwänzen ertappt. „Ich sage ihnen: das ist eure goldene Zeit, nützt die Chance.“

Der Mann für alle Fälle

Auf der Fahrt nach Geradstetten, wo Nagim Amery interimsweise die Unterkunft in der ehemaligen Hauptschule betreut, erzählt er, dass er im Jahr 1992 als 30-Jähriger aus dem bürgerkriegsgebeutelten Afghanistan nach Deutschland geflohen sei. „Ich weiß, wie das ist, wenn man in einer unbekannten Welt ankommt.“ Und so hat er zwar kurz überlegt, dann aber aus vollem Herzen zugesagt, als er im Sommer während eines Praktikums bei der Kreisbaugesellschaft seine heutige Stelle angeboten bekam. Seinen Job als Fahrer einer Spedition hat er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Nun lädt er am Wochenende regelmäßig Bewohner der Sporthalle in seinen Siebensitzer-Chevrolet und zeigt ihnen die Gegend, kutschiert sie ins Daimler-Museum nach Cannstatt oder zu einem Segelflugtag nach Welzheim.

Vorbereitungen für 50 Neuankömmlinge

In Geradstetten bespricht Nagim Amery mit dem Sozialarbeiter Matthias Reichart den Umzug von rund 150 Menschen aus der Hauptschule in eine andere Unterkunft. Auf der Fahrt dorthin klingelt zum x-ten Mal das Handy. Ein Anruf aus der Festhalle in Fellbach-Schmiden, wo Bewohner Kochtöpfe benötigen. Nagim Amery fährt zurück in die Hauptschule, holt die Utensilien aus dem Lager, und steuert sein Auto dann in Richtung Fellbach. Unterwegs muss er noch in Kernen vorbei: Ein Kollege hat dort seinen letzten Arbeitstag. Amery nimmt drei schwere Schlüsselbunde entgegen und sagt dem Mann adieu. Kurz vor Waiblingen läutet das Mobiltelefon wieder. 50 Neuankömmlinge sollen noch an diesem Tag in Waiblingen eintreffen. Die Töpfe bleiben vorerst im Kofferraum, denn Nagim Amery muss alles für die Ankunft vorbereiten.

Zurück in der Halle des Berufsschulzentrums marschiert Nagim Amery zum Bauzaun mit der Nummer 13, wechselt einige Worte und hat gleich mehrere freiwillige Helfer für den Aufbau der Stockbetten akquiriert. Der aber gestaltet sich schwierig – eine Anleitung liegt nicht bei und manches Loch sitzt schief und krumm, so dass keine Schraube greift. Erneut klingelt das Telefon – die Zahl der Ankommenden wird von 50 auf elf korrigiert.

Ein Wasserschaden verursacht Enttäuschung

Enttäuschung auf beiden Seiten, als die angekündigten Flüchtlinge aus Sigmaringen am frühen Nachmittag in Waiblingen eintreffen. Die Männer weigern sich, die Halle zu beziehen, denn ihnen waren Mehrbettzimmer versprochen. Doch einige Räume auf dem Schönbühl in Weinstadt können wegen eines Wasserschadens nicht benutzt werden. Auch Nagim Amery und seine Helfer sind etwas frustriert – sie haben ihr Bestes gegeben, damit bis zur Ankunft alles bereit ist – und nun das. Ein Vertreter des Landratsamtes eilt herbei, verspricht den Neuzugängen einen baldigen Umzug. Die Männer lassen sich umstimmen und schleppen ihr Gepäck in die Halle.

17 Uhr, Zeit für das Asylcafé, ein Treffpunkt für Flüchtlinge und Ehrenamtliche. In der Mensa des Berufsschulzentrums stehen Kaffee, Tee und Gebäck bereit. Einige Syrer machen Musik, es wird geschwätzt, gelacht und getanzt. Nagim Amery vereinbart mit einem Hallenbewohner, er werde ihm beim Umzug in ein eigenes Zimmer helfen – am Sonntag. Dann setzt er sich, zum ersten Mal. Kaum hat er Platz genommen, vor sich einen Becher schwarzen Kaffees, kommt ein Musikant und zieht ihn mit sich. Trommelwirbel und Beifall: Nagim Amery tanzt mit seinen Männern.