Viele Flüchtlingskinder sind schwer traumatisiert von ihren Erlebnissen daheim und auf der Flucht. Ein Kunsttherapieprojekt in Nürtingen soll ihnen helfen zur Ruhe zu kommen.

Nürtingen - Tareq ist heute gut drauf. Seine Katze lächelt, aber sie hat die Augen zu, was den 13-Jährigen stört: „Schläft sie? Ich will nicht schlafen, ich will glücklich sein!“ Nina Raber-Urgessa schmunzelt. „Nein, die Katze ist selig, das heißt, ihr geht’s sehr gut.“ „Das ist gut“, sagt Tareq, schnappt sich einen Stift und malt unter 70 Katzenzeichnungen mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken – von aggressiv bis zufrieden – das selige Kätzchen aus. Er schreibt das Datum dazu und seinen Namen. Dann schnappt er sich den kleinen Kuschellöwen, der anzeigt, wer in der Kunsttherapiegruppe an der Mörikeschule Nürtingen (Kreis Esslingen) gerade das Wort hat, und erzählt von seinem Ausflug tags zuvor nach Stuttgart.

 

Tareq heißt – wie alle Kinder, die in diesem Text vorkommen – in Wirklichkeit anders. Er ist einer von 23 Schützlingen, die die Kunsttherapeutin Nina Raber-Urgessa in drei Gruppen betreut mit dem Ziel, ihre Konzentrations- und Lernfähigkeit zu stärken. In der Region Stuttgart ist dieses Angebot bislang einmalig. In der Landeshauptstadt arbeitet der Verein Refugio zurzeit an einem Konzept für eine Kunsttherapiegruppe, die im Januar starten, sich aber an junge Erwachsene im Alter von 16 bis 21 Jahren richten soll. Getragen wird das Projekt in Nürtingen vom Verein Freies Kinderhaus, der dafür Geld vom Bund und vom hiesigen Lions Club bekommt. Doch die Förderung läuft aus. Was dann kommt, ist offen. „Alle reden über Bildung“, sagt die 32-jährige Therapeutin. „Aber die Politik muss begreifen, was es bedeutet, einen Krieg erlebt zu haben.“

In Libyen war zuletzt sogar Kicken gefährlich

Der junge Libyer ist mit seiner Familie vor gut einem Jahr nach Nürtingen gekommen, auf Flucht vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat. Jetzt möchte er wieder kicken, unbedingt. Nina Raber-Urgessa verspricht, beim Fußballverein anzurufen und zu fragen, ob er mitmachen darf. Die Kunsttherapeutin macht sich eine Notiz. „Schreib das auf, schreib das auf, bitte, nicht vergessen!“ drängelt Tareq. Er gibt erst Ruhe, als er den Zettel sieht.

Daheim hat er früher regelmäßig Fußball gespielt. Zwei, drei Mal die Woche war er beim Kicken. Ab er schließlich, erzählt er, „hat es Papa verboten“. Der Junge durfte nicht mehr aus dem Haus. Warum? Tareq schweigt. Die 32-Jährige gibt die Antwort. „Weil es gefährlich war.“

Traumatisierte Kinder stehen unter Dampf

Der 13-Jährige behandelt Nina Raber-Urgessa und die Besucherin außerordentlich höflich, freundlich, zugewandt. Doch so zuckersüß ist der Bub nicht immer, Tareq hat sich schon einige Schlägereien geliefert. Für den achtjährigen Mahmut aus dem Kosovo und den zehnjährigen Melaim aus Albanien gilt das Gleiche.

Diese Kinder stehen gewaltig unter Dampf. Noch vor wenigen Monaten hätten sie kaum still sitzen oder sich gar auf eine Sache konzentrieren können, erzählt die Therapeutin. „In Krisensituationen werden alle Sinne hellwach. Das ist gut zum Überleben. Aber diese Anspannung lässt sich nicht so einfach wieder abschalten.“

Dies umso mehr, als die traumatisierten Kinder hierzulande zwar in Sicherheit sind, aber dennoch belastet leben: Das – auch nicht konfliktfreie – Zusammenleben in engen Flüchtlingsunterkünften, die Angst vor der Abschiebung, die Sorge um die Daheimgebliebenen, die Erlebnisse vor und während der Flucht, über die häufig nicht gesprochen wird, und die Sorge um Eltern, die ebenfalls traumatisiert sind und oft depressiv oder aggressiv reagierten. Die Konsequenz sind „übererregte Kinder mit einer hohen Gewaltbereitschaft“, sagt Nina Raber-Urgessa.

Die Familie ist daheim von Blutrache bedroht

Tareq hat den Bürgerkrieg erlebt und die Flucht nach Deutschland überlebt. Melaims Familie ist daheim in Albanien von der Blutrache bedroht. Jahrelang haben der Junge und seine ältere Schwester ihr Elternhaus nicht verlassen dürfen, aus Sorge, sie könnten getötet werden.

Schließlich legen die Jungs den kleinen Löwen zur Seite, sie haben genug erzählt. Jetzt wollen sie malen. Mit der Arbeit am eigenen Bild gewinnen die Kinder auch die Kontrolle über etwas eigenes zurück in einer Welt, in der ihr gesamtes Umfeld die Kontrolle über so vieles verloren hat. Sie lernen, sich zu fokussieren, sie lernen auch, Grenzen einzuhalten: Bei Gemeinschaftsarbeiten etwa, wo jeder den Arbeitsbereich des anderen respektieren muss.

Kunst kann konzentrieren lehren

Alle drei ziehen große Plakate hervor, es sind Ganzkörperbilder von ihnen selbst. Auf der einen Seite ist die Deutschlandflagge gemalt, rechts jener Gestalt malen die Buben die Farben ihrer Heimatländer. Sie gehen zur Wand, wo auf einem Plakat die Flaggen der Welt versammelt sind. Tareq hat es am leichtesten. Mahmut, der sichtlich Freude hat an der Malerei, versucht sich konzentriert an den kosovarischen sechs Sternen auf blauem Grund. Melaim aber streckt gleich die Waffen: einen zweiköpfigen Adler zu pinseln, das wird nichts. „Nina, bitte hilf!“ Schließlich bittet auch Mahmut um Unterstützung: „Sonst mache ich Kosovo kaputt!“

Angefangen hat sie ehrenamtlich, im ersten Containerdorf in Nürtingen hat sie für Kinder ein Atelier angeboten. Dann beantragte und bekam der Trägerverein Freies Kinderhaus Nürtingen Fördermittel aus dem Bundesprogramm „Kultur macht stark“. Die Mörike-Grundschule in der Innenstadt hatte einen geeigneten Raum, was das zentrale Problem löste: „Wie komme ich an die Kinder?“

Therapeutin und Lehrer tauschen sich aus

Die Kinder kommen jetzt zu Nina Raber-Urgessa, sie werden geschickt von den Lehrern und den Schulsozialarbeitern, die die Kinder in den internationalen Vorbereitungsklassen betreuen. Therapeutin und Lehrer tauschen sich aus, deshalb ist Nina Raber-Urgessa im Bilde, was in den Tagen seit dem letzten Treffen passiert ist.

Da hakt sie auch nach. Die große Schwester hatte im Containerdorf heftigen Krach mit der Nachbarsfamilie? Raber-Urgessa bietet an, mit der zuständigen Sozialarbeiterin zu reden. Es gibt Ungereimtheiten wegen entliehener Bücher bei der Stadtbibliothek, die jetzt fehlen? Raber-Urgessa mahnt nachdrücklich, sich darum zu kümmern. Tareq will einfach nur kicken? Raber-Urgessa erkundigt sich.

Aber sie bohrt nicht nach, wenn es um die Erlebnisse auf der Flucht oder in der Heimat geht. Das Schweigen sei auch ein Schutzmechanismus. „Erst wenn man bereit ist, kann man erzählen“, sagt sie. Lieber versucht sie künstlerisch die Welten der Kinder zu vereinen. „Die Frage ist: Wie integriere ich, was ich mitgebracht habe?“, sagt Nina Raber-Urgessa. „Die Vergangenheit ist ja schließlich nicht weg“ – nur weil noch keiner darüber reden kann.

Auf der Flucht

Im Landkreis Böblingen waren im September nach Angaben einer Sprecherin von etwa 1500 Flüchtlingen 332 unter 18 Jahre alt. Davon waren 64 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Diese Kinder finden in Pflegefamilien oder in Jugendhilfeeinrichtungen, nicht in den üblichen Gemeinschaftsunterkünften Unterschlupf. Im Böblinger Landratsamt rechnet man damit, dass man bis zum Ende des Jahres insgesamt 150 allein reisende Minderjährige unterbringen muss.

Im Kreis Esslingen war im September etwa jeder sechste von 2222 Flüchtlingen noch minderjährig. 302 Kinder und Jugendliche waren mit ihren Familien in 61 Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. 80 junge Menschen wurden in Jugendhilfeeinrichtungen betreut, weil sie ohne Eltern unterwegs sind. Diese Zahl ist kräftig gewachsen. Allein im Oktober kamen bisher 37 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zusätzlich in den Landkreis.

Mehr als ein Drittel der 1028 Flüchtlinge, die im September im Kreis Göppingen lebten, waren minderjährig. Von den 375 Kindern waren 26 ohne Eltern gekommen.

Am meisten Kinder und Jugendliche sind im Kreis Ludwigsburg gelandet. In den Unterkünften leben 629 Minderjährige; fast jeder dritte Flüchtling (von insgesamt 2110) war damit unter 18.

In den 30 Gemeinden um Waiblingen leben laut dem Landratsamt aktuell etwa 2800 Flüchtlinge. Davon sind 315 minderjährig. In Jugendhilfeeinrichtungen sind 62 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Hinzu kommen sieben junge Menschen, die gerade erst 18 geworden sind. In den nächsten Tagen werden im Rems-Murr-Kreis weitere 18 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erwartet.

Das Kultusministerium veranstaltet am Freitag, 6. November, von 11.30 Uhr an im Stuttgarter Theaterhaus einen Fachtag zum Thema „Hand in Hand – kleine Flüchtlingskinder und ihre Familien begleiten“. Dabei wird teilweise ein Film der Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich gezeigt und außerdem über das ehrenamtliche Engagement von Flüchtlingsfrauen in einer baden-württembergischen Kindertagesstätte berichtet. Die Veranstaltung richtet sich an alle, die sich für Flüchtlingskinder engagieren. Anmeldungen sind bis zum 4. November möglich unter https://vt.kultus-bw.de/events/Veranstaltung/2975.