Weil die Seewege immer effektiver kontrolliert werden, wächst die Zahl der Immigranten, die von Griechenland aus über den Balkan in die anderen Schengen-Staaten drängen. In manchen Grenztälern Mazedoniens sammeln sie sich wie Treibholz.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Lojane - Misstrauische Blicke begegnen dem Fremden. Zum Plausch verspüren die wenigen Passanten auf den staubigen Straßen im mazedonischen Grenzdorf Lojane nur wenig Lust. Erst kürzlich seien zehn Schlepper verhaftet worden, erklärt ein braun gebrannter Mann die wortkargen Antworten der Dorfbewohner: „Keiner will über das Geschäft sprechen. Alle haben Angst vor der Polizei.“ Mit einer Kopfbewegung weist er in Richtung der Berge: „Da hinten ist die Grenze zu Serbien – da findet ihr Ausländer.“

 

Ein hagerer Endzwanziger, der sein Pferd zum Holzholen in die Wälder führt, weist den holprigen Weg ins enge Tal. Fünf Euro soll die Übernachtungsgebühr in Lojane für potenzielle Grenzgänger pro Nacht und Nase betragen. Ab 200 Euro pro Person sind Schlepperdienste für die Grenzpassage zu haben. Nein, von dem „Geschäft“ lasse er selbst die Finger, versichert der Bauer. Als 2008 die ersten Fremden ins Dorf gekommen seien, habe er drei Mal Chinesen über die Grenze geführt. Doch beim dritten Mal sei es „schiefgegangen“. Nach seiner Verhaftung saß er zwei Jahre im Gefängnis: „In unserer Familie hat niemand bezahlte Arbeit. Aber Menschen schmuggle ich nicht mehr. Nie wieder!“

Am Ende des Tales warten Dutzende von Männern

Zu Dutzenden harren die auf den Uferwiesen sitzenden Männer auf den Einbruch der Dunkelheit. Die meisten kommen aus Syrien, einige aus Afghanistan und Pakistan. „Wir gehen rüber, sie verhaften uns, zerbrechen unsere SIM-Karten und schieben uns wieder ab“, beschreibt ein Afghane das Katz-und-Maus-Spiel an der grünen Grenze zu Serbien. Selbst habe er es schon einmal über Ungarns 600 Kilometer entfernte Schengen-Grenze geschafft. Doch trotz seiner erneuten Abschiebung nach Mazedonien verschwendet der junge Mann keinen Gedanken daran aufzugeben. Er wolle zu den Verwandten nach Deutschland: „Wohin sollte ich sonst? In meinem Land ist Krieg. Ich habe alles verloren.“

Eine gegenüber 2012 drei Mal erhöhte Zahl illegaler Grenzgänger zwischen Serbien und Ungarn vermeldete die EU-Grenzschutzbehörde Frontex Mitte Februar in ihrem Quartalsbericht. Einen verstärkten Flüchtlingsandrang im serbischen EU-Vorhof bestätigt in Belgrad Rados Djurovic, der Direktor des Zentrums zum Schutz für Asylbewerber (CZA). Statt wie früher über die Griechenland-Fähren nach Italien werde vermehrt auf dem Landweg der Westbalkan-Route über Ungarn die Einreise ins Schengenreich gesucht. Zwar ist Griechenland im Schengenraum, aber bis Österreich oder Ungarn klafft eine Lücke von mindestens zwei Staaten. Der Syrienkrieg und der Routenwechsel schlagen sich in Serbiens Flüchtlingsstatistiken nieder. Die Zahl der Asylanträge hat sich seit 2009 von 275 auf mehr als 5000 vermehrt und könnte 2014 auf 10 000 klettern. Die Dunkelziffer sei kaum zu schätzen, so Djurevic: „Wir gehen davon aus, dass allein 2013 über 20 000 Illegale durch Serbien in Richtung Westeuropa gezogen sind.“

Die Albaner sind arm geblieben

Mit Lehm verputzte Mauern umsäumen die Bauernhöfe in Lojane. 2001 brach ein blutiger Albaner-Aufstand im ärmlichen Dreiländereck zu Kosovo und Serbien aus. Mazedonien taumelte monatelang am Rand eines Bürgerkriegs. Der Friedensvertrag von Ohrid sollte der albanischen Minderheit mehr Rechte sichern, doch ihre Lage verbesserte sich kaum. Zusatzeinkünfte bringt nur der Schmuggel – früher von Zigaretten, nun von Menschen.

Die Umsätze der Schlepperbanden seien „enorm“,, berichtet Djurovic. Bis zu 10 000 Euro haben Flüchtlinge für die Passage von Zentralasien bis nach Westeuropa zu berappen – ein Teil bleibt in den Ländern des Westbalkans hängen. Der Schmuggel in der Region habe sich durch die UN-Sanktionen im Kriegsjahrzehnt der 90er Jahre und die starken kriminellen Banden zwischen den exjugoslawischen Staaten über die Grenzen hinweg entwickelt, so Djurovic: „Die Netzwerke werden nun zum Menschenschmuggel aktiviert.“

Serbien als Durchgangsstation

Im Tal von Lojane Bach hadert der syrische Kriegsflüchtling Abdullah mit seinem Schicksal, der gleichgültigen Staatenwelt – und den serbischen Gesetzeshütern. Als unfreiwilliges Strandgut auf der Balkanroute ist der 40-jährige Sportlehrer auf seiner einjährigen Flucht-Odyssee erst wenige Stunden zuvor in dem unwirtlichen Niemandsland gelandet: „Ich weiß nicht, wo ich hier bin – und wohin ich soll.“

Vor einem Jahr sei er aus seiner Heimatstadt Al-Hasaka geflohen, erzählt der drahtige Kurde mit bedrückter Stimme: „Erst überzogen die Truppen von Assad das Land mit Krieg. Dann kamen die Kämpfer der Al-Kaida und brannten uns Kurden die Häuser ab.“ Zunächst flüchtete er in die Türkei. 5000 Euro bezahlte der Lehrer dort einem Schlepper, der versprach, ihn per Lkw nach Österreich zu bringen.“ Doch abgesetzt wurde Abdullah schließlich an einer serbischen Landstraße. Als ihn Polizisten aufgriffen, mühte sich Abdullah vergeblich, Asyl zu beantragen: „Sie schlugen mich und verhafteten mich. Der Richter sagte, du bleibst wegen illegalen Grenzübertritts zehn Tage im Gefängnis – und dann wirst du nach Mazedonien zurückgebracht. Doch ich bin hier nie gewesen, kenne Mazedonien überhaupt nicht.“

Viele wollen hier nur Kräfte sammeln

Für 98 Prozent der Asylbewerber sei Serbien nur eine Durchgangsstation – und ihr Asylantrag eine Gelegenheit, Kräfte zu sammeln oder bei Angehörigen neue Mittel für die Weiterreise zu organisieren, so die Erfahrung von Djurovic. Selbst mehrmaliges Scheitern an einer Transitgrenze halte die Flüchtlinge nicht von ihrem Ziel ab: „Wer entschlossen ist, überwindet die Grenze irgendwann – und zieht weiter:“ Wer es bis Serbien schaffe, habe viel Geld investiert: „Für sie gibt es keine Alternative: Niemand will in Länder wie Syrien oder Somalia zurück.“ Außer über die Albanien-Montenegro-Route verspüre Serbien vor allem über Bulgarien einen verstärkten Immigrationsdruck. Frontex könne noch soviel Millionen in neue Grenzzäune pumpen: Immigration lasse sich bremsen oder umleiten, doch nicht stoppen, sagt Djurovic: „Sie ist wie ein Fluss: Versucht man ihn aufzuhalten, schlägt er andere Wege ein.“

Die meisten der in Lojane gestrandeten Flüchtlinge sind Akademiker – Ärzte, Architekten, Lehrer oder Studenten. Wortlos zeigt einer seinen mit Brandwunden übersäten Oberkörper. In syrischer Haft sei sein Schicksalsgenosse mit Elektrokabeln geschlagen und gefoltert worden, erzählt ein Medizinstudent: „Als er rauskam, war er halb tot.“ Mit Verständnis könnten die Flüchtlinge dennoch nicht rechnen, klagt der syrische Kurde: „Europa behandelt uns wie der letzte Dreck. Die Schlepper nehmen uns unser Geld, die Polizei die Freiheit – und Diebe stehlen uns selbst die Schuhe von den Füßen.“ Angst vor Wölfen, Skorpionen oder Schlangen habe er keine: „Nur vor den Menschen.“

Für die Deportation in die Herkunftsländer mangelt es den Balkanstaaten an Mitteln – und Rückführungsabkommen. Während die EU-Staaten über effektive Deportationsmechanismen verfügen, sieht sich der EU-Vorhof mit dem doppelten Druck einer steigenden Zahl neuer Immigranten sowie abgeschobener Grenzgänger konfrontiert. 42 628 Immigranten hat die EU-Grenzschutzbehörde Frontex allein im dritten Quartal 2013 abgeschoben – doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. „Wir sind nicht nur Zahlen, wir sind Menschen“, sagt der in Lojane gestrandete Abdullah. Wo seine drei Kinder seien, wisse er nicht. Das Einzige, was er wolle, sei Frieden, sagt der Syrer verbittert: „Doch Europa hat uns Syrer vergessen. Alle reden über Menschenrechte, aber sie tun nichts für uns.“