Wie gehen die Parteien mit dem Thema Flüchtlinge um? Christdemokraten buhen, wenn sie nur den Namen Merkel hören, Sozialdemokraten fühlen sich im Stich gelassen – und die Grünen reden gar nicht darüber. Ein Lagebericht aus der Region.

Stuttgart - Noch vor Kurzem reichte es auf einer CDU-Veranstaltung, den Namen der Kanzlerin zu nennen, und schon folgte ein donnernder Beifall. Angela Merkel. Angie, die Mutter der Nation. Laut wird es auch in Herrenberg, wo die örtliche CDU eigene Mandatsträger aller politischen Ebenen eingeladen hat, um die schon provokante Frage „Wir schaffen das?“ zu diskutieren. Doch die paar, die kräftig klatschen, können das Hohngelächter und die Buhrufe nicht übertönen.

 

In Herrenberg sind die Zweifel an Merkels Schaffenskraft womöglich besonders groß, denn dort will das Land im ehemaligen IBM-Schulungsgebäude eine Landeserstaufnahmestelle für etwa 1000 Flüchtlinge einrichten. An diesem Abend im Ramada-Hotel schafft man es nicht einmal, pünktlich zu beginnen. Eine Vollsperrung auf der Autobahn verursacht Chaos. Clemens Binninger ist schon da, der Böblinger CDU-Bundestagsabgeordnete überbrückt die Wartezeit: „So gut besucht waren Parteiveranstaltungen noch nie“, scherzt er: Da habe die Flüchtlingskrise auch ihr Gutes.

Dann wird es ernst. Binninger formuliert die Spielregeln der Veranstaltung, die drei Stunden dauern soll. „Wir sind da, um uns Ihre Sorgen anzuhören. Aber wir sind nicht dazu da, um irrationale Ängste zu schüren.“ Hier sei kein Platz für Polemik gegenüber Menschen, die in großer Not fliehen, sagt er. Keiner lacht mehr. Nur vereinzelt wird geklatscht. Beifall gibt es wieder, wenn Binninger fragt: „Wie lange schaffen wir das noch?“ Über kurz oder lang könne man nicht auf wirksame Grenzkontrollen verzichten. Damit hat er die knapp 150 Zuhörer auf seiner Seite.

Kein gemähtes Wiesle für Grässle

Inge Grässle schafft das nicht. Für die CDU-Europapolitikerin ist der Abstecher nach Herrenberg kein gemähtes Wiesle, sie zieht gleich zu Beginn den Unmut auf sich. „Ich warne davor zu glauben, dass wir schnell das Ruder herumreißen können“, sagt sie in Richtung Binninger. Aber das ist nicht das, was ihr Publikum hören möchte. „Es arbeiten viele unter Hochdruck. Ich habe großen Respekt vor Angela Merkel und bin dankbar, dass wir sie haben.“ Jetzt wird gebuht. „Niemand kann das Problem lösen, nur sie“, schiebt Grässle nach. Aber sie dringt kaum durch – und kann ihren Frust nicht verbergen. „Mit dem Spirit, der uns seit Monaten entgegenschlägt, hätten wir uns nicht von den Bäumen runtertrauen dürfen“, ätzt sie.

Die Fragerunde beginnt, Berthold Binder meldet sich. Der Herrenberger hat sich vorbereitet, das Blatt Papier mit seiner Ansprache hält er in der Hand. „Die CDU kippt unser Land“, sagt er. „Die Flüchtlinge destabilisieren Deutschland, wie es nicht vorstellbar war. Sie rauben unsere Kräfte für ebenfalls wichtige Projekte in unserem Land.“ Das Volk sei der Souverän, aber „das Volk wird nicht gehört“.

Der Mann bekommt viel Applaus. Die Ersten fordern, er möge endlich eine Frage stellen. Loswerden muss er unbedingt noch seine Kritik an den Medien, „die dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr versorgt werden mit authentischer Information“. Indem er das ausspricht, will er „ein Beispiel geben für Zivilcourage“, als gehöre dazu unbändiger Mut.

Politischer Martini in der Darmsheimer Turnhalle

Es gibt auch andere Stimmen. Werner Reutter etwa. Der Gültsteiner hat bereits mehrere Hilfslieferungen in den Nordirak organisiert. „Die sitzen alle auf gepackten Koffern“, sagt der Senior. Die Politik müsse vor Ort helfen. „Wir müssen denen sagen, eine Willkommenskultur gibt es bei uns nicht mehr. Wir unterstützen euch daheim. Da kann man mit dem gleichen Geld 30-mal so viel machen wie hier.“

In der Darmsheimer Turnhalle feiern die Sozialdemokraten kurz nach den Anschlägen von Paris ihren 17. politischen Martini. Es wird ein ernstes Familienfest. Der Landtagsabgeordnete Florian Wahl mahnt von der mit ein paar Lampions und Zweigen zurückhaltend dekorierten Bühne herunter, nicht Flüchtlinge und Anschläge zu vermischen. „Flüchtlinge sind keine Terroristen, sie fliehen vor den Schlächtern des Islamischen Staates.“ Die Genossen an den Resopaltischen klatschen. In der Krise beweise sich der Charakter, habe der frühere Kanzler Helmut Schmidt gesagt: „Lasst uns Charakter zeigen“, beschwört Wahl seine rund 200 Parteifreunde. Diese applaudieren, wie um sich selbst zu bestärken. Der Hamburger Erste Bürgermeister Olaf Scholz wirbt für ein starkes solidarisches Europa. „Keiner sollte die Probleme alleine lösen müssen.“

Beim anschließenden Gänsebraten mit Rotkohl wird deutlich, dass gerade das die Stimmung trübt. „Man fühlt sich alleingelassen“, sagt Kirsten Rebmann, die im Flüchtlingskreis aktiv ist. Die Kluft zwischen der großen Politik oben und der Basis unten mache den Genossen zu schaffen. „Es dauert viel zu lange, bis das Geld ankommt“, klagt die Gemeinderätin aus Schönaich. „Ohne die freiwilligen Helfer würde nicht viel funktionieren.“

Manfred Stock, ein Gemeinderat aus Sindelfingen, verteidigt seine Genossen in Bund und Land. Es sei halt schwierig für die SPD, die strikte Ablehnung der Obergrenzen gegen die Koalitionspartner CDU und CSU durchzusetzen. „Man muss begrenzen“, sagt ein Genosse lapidar im Vorübergehen.

„Wir sind keinen Millimeter weitergekommen“

Stock und Rebmann übertreffen sich darin zu beteuern, dass man hier mit den Leuten sprechen müsse und in der Türkei die Flüchtlingslager verbessern, damit die Leute gar nicht erst herkämen. Man müsse die europäischen Partner überzeugen, etwas gemeinsam zu schaffen. „Davon reden wir seit Monaten“, murmelt ein Besucher über seinen Gemüsemaultaschen, „wir sind keinen Millimeter weitergekommen.“

Kein Blatt vor den Mund nimmt Manfred Ruckh, der Vizevorsitzende der SPD im Kreis Böblingen. Er fürchte sich regelrecht vor der Landtagswahl – davor, dass die AfD ins Parlament einziehe, sagt er. „Die Leute sagen, dann wählen wir halt AfD.“ Dabei frage er sich, was für eine Republik diese Partei denn wolle. Der Waldenbucher redet mit den Leuten, versucht, sie mitzunehmen. Was er hört, erschreckt ihn manchmal. Sozialneid komme auf. Jetzt auf einmal würden Wohnungen gebaut, heiße es. In dem Punkt habe die SPD geschlafen, merkt der Genosse selbstkritisch an.

Mitnehmen ließen sich die Leute nicht mehr so recht. Sie bleiben mit ihrer Kritik und ihren Sorgen an den Stammtischen. „Zur Bürgerversammlung gehe ich nicht“, hat Ruckh schon öfter gehört, „da sind lauter Gutmenschen.“ Er verlangt „von den Oberen“ in Bund und Land, „klare Führung, klare Struktur, klare Aussagen. Wenn die jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf treiben, kann ich meinen Ortsverband zumachen.“

„Grenzzäune sind Dinge der Vergangenheit“

Auch beim Grünen-Kreisverband Esslingen ist man in Gedanken schon längst bei der Landtagswahl. Auf der Mitgliederversammlung werden die Eckpunkte des Programms präsentiert. Natürlich nehmen auch die hiesigen Landtagsabgeordneten Andrea Lindlohr und Andreas Schwarz sowie ihr Bundestagskollege Matthias Gastel teil. „Grenzzäune sind Dinge der Vergangenheit, nicht der Zukunft“, sagt Gastel. Er findet, dass zurzeit Panik geschürt werde. Mehrere Flüchtlingsgipfel hätten Ergebnisse gebracht, diese Ergebnisse müsse man nun auch wirken lassen. „Es ist völlig unangebracht, am Tag nach einer Einigung neue Verschärfungen zu fordern“, sagt Gastel.

Winfried Kretschmann, nach wie vor Mitglied im Ortsverband Leinfelden-Echterdingen, fehlt dieses Mal. Im vorigen Jahr war er da. Damals habe es Gesprächsbedarf gegeben, erinnert sich Jürgen Ostrowski aus Leinfelden-Echterdingen: Zuvor hatte der Bundesrat die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt – mit der Zustimmung des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann, was diesem parteiintern einen Haufen Ärger bescherte. „Wir müssen umdenken“, habe der Regierungschef seinen Esslingern im vorigen Jahr gesagt, erinnert sich Ostrowski. Kretschmann habe recht behalten. „Die Stimmung könnte kippen“, sagt er. Diese Sorge treibe alle um.

Davon ist aber hier bei der Mitgliederversammlung in Filderstadt überhaupt nichts zu spüren. Angela Merkel würde sich hier wohlfühlen. Bei der Fragerunde geht es um das Freihandelsabkommen TTIP, um soziale Fragen, den Klimawandel, die Schulpolitik, die Mietpreisbremse. Die Flüchtlingspolitik? Keine Nachfrage wert. „Bei uns gibt es den Konsens, dass wir bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen und Bleibeberechtigte zu unterstützen“, erklärt Margarete Schick-Häberle, eine Kreis- und Stadträtin aus Ostfildern. „Wir diskutieren andere Themen, manches ist einfach klar.“ Und Boris Palmer? Der Tübinger Oberbürgermeister hat mit seinem „Wir schaffen das nicht“ auf Facebook ordentlich grüne Minuspunkte gesammelt. „Das hat der Mehrheit nicht gefallen, aber das muss man respektieren. Das ist halt die Perspektive des Oberbürgermeisters, der Wohnraum sucht“, sagt Schick-Häberle nur.

Ein Grüner wie im Bilderbuch

Gerhard Härer aus Aichtal ist ein Grüner wie aus dem Bilderbuch: Rauschebart, Wuschelfrisur, Nickelbrille, bunte Schlabberhose, Parteimitglied seit 1989. Sogar den „Atomkraft – Nein danke!“-Sticker hat er recycelt, die Sonne strahlt jetzt gegen „EnBW-Saft“. Just dieser Urgrüne sagt: „Wahrscheinlich hat Boris Palmer einfach recht.“ Gerhard Härer, der acht Jahre im Gemeinderat saß, hält ihn für einen fähigen Mann, dem parteiintern oft sein großes Ego im Weg stehe.

Härer stellt die grüne Willkommenskultur nicht in Frage: „Wir kümmern uns um die Menschen.“ Aber er fragt sich, was passiert, wenn nächstes Jahr wieder so viele Flüchtlinge kommen. Im 10 000 Einwohner zählenden Aichtal leben in einer Notunterkunft 280 Asylbewerber. Im Ort, erzählt Härer, kursierten immer wieder die wildesten Gerüchte. Mal schließe angeblich der Supermarkt wegen der vielen Ladendiebstähle, mal erzähle man sich Geschichten über Messerstechereien. Beides sei Quatsch, „aber es zeigt, dass die Bürger angespannt sind“. Wie lässt sich die Lage entspannen? Da gibt es nur eines, meint Härer: „Schwätza, schwätza, schwätza.“