Das Land hat einen zweiten Flüchtlingsgipfel angekündigt. Der scheint nötig zu sein. Der Druck in der Region Stuttgart ist weiter groß. Mittlerweile geht es nicht mehr nur ums Unterkommen. Künftig geht es darum, miteinander auszukommen.

Stuttgart - In der Region Stuttgart werden in diesem Jahr fast zweieinhalbmal so viele Flüchtlinge ankommen wie im Jahr zuvor. Die fünf Landkreise Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg und Rems-Murr und die Stadt Stuttgart rechnen damit, rund 18 000 Menschen unterbringen zu müssen. Voriges Jahr waren es 7632 Flüchtlinge gewesen. Stuttgart alleine muss dieses Jahr wie berichtet 4000 neue Unterkünfte schaffen. Außerhalb der Landeshauptstadt fehlen in der Region zurzeit etwa 5000 Wohnheimplätze.

 

Die Landkreise verteilen die Neuankömmlinge bis jetzt unterschiedlich. Im Kreis Böblingen etwa gibt es nach Angaben des Pressesprechers Dusan Minic aktuell in neun Gemeinden Asylunterkünfte mit insgesamt 1300 Plätzen. Mit den anderen Kommunen sei man im Gespräch, so der Sprecher. Der Landrat Roland Bernhard (parteilos) hat am 22. Mai seine Bürgermeister mit einem Brandbrief um Hilfe gebeten. 1200 Betten fehlen noch. In Sindelfingen als größter Stadt im Kreis sind erst jetzt Flüchtlinge angekommen. Wenn im Juli das ehemalige Hotel Ritter zur Herberge für 150 Asylbewerber wird, leben etwa 400 Flüchtlinge in der knapp 62 000 Einwohner zählenden Stadt.

Im Rems-Murr-Kreis haben nach Angaben des Landratsamtes 16 von 31 Kreisgemeinden 1770 Asylbewerber aufgenommen. Die Hauptlast tragen indes fünf Städte. In Waiblingen, Fellbach, Schorndorf, Backnang und Winnenden leben zurzeit 1307 der 1770 Flüchtlinge.

Notunterkunft in Esslinger Turnhalle vor Schließung

In den anderen Kreisen sind mehr Kommunen beteiligt. Im Kreis Ludwigsburg gibt es in 30 der 39 Gemeinden 94 Unterkünfte mit 2115 Plätzen. Davon sind 586 in der Stadt Ludwigsburg. 1300 will der Kreis dieses Jahr noch einrichten. Im Kreis Göppingen leben in 27 von 38 Kreiskommunen Flüchtlinge. Die Heime bieten zwischen fünf und 220 Menschen Raum.

Im Kreis Esslingen haben bisher 15 von 44 Gemeinden noch keine Flüchtlinge aufgenommen. Der Kreis prüft oder plant bereits konkret Heime in 14 Ortschaften; nur für Altdorf gibt es keine Überlegungen. Bis Ende des Jahres soll auch die Notunterkunft in der Turnhalle der Berufsschule in Esslingen-Zell ausgedient haben. Die Flüchtlinge dort werden anderweitig untergebracht. Dieses Jahr hat man in 29 Kommunen 2000 Flüchtlinge aufgenommen. Das sind schon jetzt 200 mehr, als der Kreis 2014 zugewiesen bekommen hat. Dieses Kontingent hatte man dem Pressesprecher Peter Keck zufolge nicht erfüllen können. 221 Plätze fehlten am Ende.

Der Druck ist also immer noch groß. Die 35 baden-württembergischen Landräte haben deshalb am 10. Juni die zwölf Punkte umfassende Schluchseer Erklärung verabschiedet. Sie fordern darin Bund und Land auf, Flüchtlinge nur dann aus den Landeserstaufnahmestellen in die Kreise zu schicken, wenn sie auch eine Chance auf ein Bleiberecht hätten. Dem Migrationsdruck aus Südosteuropa müsse endlich Einhalt geboten werden. Dazu zähle die Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort, dazu gehöre aber auch konsequentes Abschieben. Außerdem müssten die Asylanträge zügiger bearbeitet werden. Letzteres ist gehört worden, der Bund hat in der vergangen Woche angekündigt, Mitarbeiter einzustellen.

Landrat fordert bessere Informationen vom Land

Der Waiblinger Landrat Johannes Fuchs (FDP) hat in einem Brief an den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann unter anderem moniert, das Land müsse früher über die Flüchtlingszahlen informieren. Es sei unkalkulierbar, wie viele Personen untergebracht werden müssten. Sein Böblinger Kollege Bernhard hatte bereits im Herbst gefordert, das Land möge die Einführung der Sieben-Quadratmeter-Regel verschieben. Zurzeit müssen die Kreise in ihren Unterkünften je Flüchtling viereinhalb Quadratmeter bereitstellen. Vom 1. Januar 2016 an müssen es sieben sein. Kretschmann hat wie berichtet schon erklärt, daran festhalten zu wollen.

Hinzu kommt: wenn Pläne für ein neues Asylbewerberheim bekannt werden, löst das vor Ort selten Begeisterung aus. In den vergangenen Monaten gab es in der Region auch Bürgerproteste der hässlichen Sorte. Im Esslinger Stadtteil Sulzgries sind beispielsweise anonyme Flugblätter verteilt worden mit den Telefonnummern von Bürgervertretern. Der Nürtinger Bauausschuss hat vor zwei Wochen aus Angst vor Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen unter Polizeischutz getagt. Die Stadt plant im Roßdorf Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen – auch für Flüchtlinge.

Umstrittene Großrazzia

Diskussionen entfacht hat auch eine Großrazzia der Polizei in einem Backnanger Heim im Mai. 250 Polizisten durchkämmten mit Spürhunden die Einrichtung – und fanden nur 100 Gramm Marihuana. Im Umfeld des Heims sei es immer wieder zu Drogenhandel und Diebstählen gekommen, verteidigte sich die Polizei nach der umstrittenen Aktion. Es werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen, kritisierte dagegen der Arbeitskreis Asyl.

Vielerorts helfen Ehrenamtliche, die Flüchtlinge in die Gemeinschaft einzubinden. In Böblingen, Esslingen Ludwigsburg und Stuttgart haben sich sogar Familien gemeldet, die Flüchtlinge aufnehmen möchten. Um die Freiwilligen zu unterstützen, gibt es im Ludwigsburger Landratsamt zwei Mitarbeiter, die für die Koordinierung der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe zuständig sind. Im Kreis Böblingen hat vor zwei Wochen eine Koordinatorin ihre Stelle angetreten. Der Kreis Esslingen hat im Mai die Einrichtung entsprechender Stellen beschlossen.

„Wir leben ständig von der Hand in den Mund“, sagt der Sozialdezernent im Göppinger Landratsamt, Hans-Peter Gramlich. Ein Dach über dem Kopf für die Flüchtlinge zu finden sei das eine, aber „wir müssen auch dafür sorgen, dass die Menschen hier adäquat untergebracht sind“.