Wie sieht der Alltag in einer Erstaufnahmestelle aus? Was beschäftigt die Flüchtlinge und Betreuer? Woran fehlt es? Wir waren einen Tag und eine Nacht in der Notunterkunft am Stuttgarter Reitstadion unterwegs.

Stuttgart - Um sechs Uhr am Morgen ist es klirrend kalt zwischen den Zelten. Schichtwechsel. Dort, wo sonst Neuankömmlinge registriert werden, sind jetzt Übersetzer und Securitypersonal versammelt. „Wie war die Nacht?“, fragt der Schichtführer Salah. „Eine Frau ist ins Krankenhaus gekommen, ansonsten ist es ruhig geblieben“, berichtet Mohammed. Die Mitarbeiter der Betreiberfirma Campanet, die sich um die Flüchtlingsunterkunft kümmert, sind routiniert. Alle sprechen außer Deutsch auch Persisch oder Arabisch. Salah verteilt die Aufgaben für den Tag unter seinen acht Kollegen. Dann beginnt der hochgewachsene 43-Jährige den Rundgang durch das Camp, in dem noch Stille herrscht.

 

Knapp 400 Plätze sind in den für 1100 Menschen ausgelegten Zelthallen im Stuttgarter Reitstadion belegt. Schwach erleuchten einige Lampen um halb sieben die Essenshalle. Mitarbeiter einer Cateringfirma bereiten das Frühstück vor. Eine Stunde später erwachen nach und nach die Bewohner der Zeltstadt.

Mustafa greift nach dem Honig und lächelt schüchtern. Der Vierjährige frühstückt mit seiner Mutter Jenan. Er hat noch vier Geschwister, sein Vater ist im Irak gestorben. Jenan ist mit den Kindern allein geflohen, zu Fuß und mit einem Boot. „Die Versorgung im Camp ist sehr gut, alle sind sehr hilfsbereit“, sagt die 43-Jährige. Doch das Warten auf die Anerkennung als Asylsuchende zermürbt sie. Jenan weint, drückt Mustafa an sich, tupft sich die Tränen ab. „Entschuldigung“, flüstert sie.

Nach dem Frühstück steuern viele Flüchtlinge die medizinische Sprechstunde an. Jeden Tag von 9 bis 13 Uhr stellen Ärzte und Krankenpfleger der Malteser, Johanniter und des Deutschen Roten Kreuzes die ärztliche Notversorgung sicher. „Die meisten Flüchtlinge kommen mit jahrestypischen Beschwerden zu uns – Virusinfekte, Husten, Grippe“, sagt die Ärztin Solveig Mitt.

Bei jedem Patienten sind nicht nur ein Arzt und ein Pfleger im Raum, sondern auch zwei geflohene Ärzte mit Persisch- und Englischkenntnissen: Dr. Samira und Dr. Dahoud. Ohne ihre Mithilfe wäre die Notversorgung kaum möglich. Dr. Samira übersetzt von Persisch auf Englisch, was die Patienten schildern. Die schwangere Frau aus Nordafghanistan hat gleich nach ihrer Ankunft angefangen, in der Medizinstation mitzuarbeiten. „I work here for free. But I need to keep me busy“, sagt die Gynäkologin. Große Sorgen macht auch ihr die unsichere Zukunft und dass ihre vier Kinder nun schon seit Wochen nicht mehr zur Schule gegangen sind. Unterdessen füllt sich das Essenzelt. Bevor man sich hier seinen Teller abholen darf, müssen die Hände desinfiziert werden – unter Aufsicht.

Kleider sortieren und Deutsch lernen

In der Kleiderkammer herrscht zwei Stunden vor der Ausgabe um 17 Uhr noch ein wenig Chaos. Auf einem Kleiderständer in der Mitte des Raumes hängen Winterjacken und Mäntel nach Größen sortiert. Am Rand stapeln sich die Kisten mit den Pullovern für Frauen und Männer, den Schuhen, den Kuscheltieren. In den vergangenen Tagen wurden viele Kleiderspenden abgegeben. Nicht alles habe Verwendung gefunden, erzählt eine ehrenamtliche Helferin. Hochhackige Schuhe zum Beispiel, oder viel zu große Männerhosen.

Ibrahim hilft beim Sortieren, jeden Tag mehrere Stunden. Wenn er nicht gerade irgendwo in der Zeltstadt zum Übersetzen gebraucht wird. Oder zum Kisten schleppen. Der 29-jährige Flüchtling aus Syrien bekommt für jede Stunde Arbeit einen Euro, pro Monat sind das 300 Euro Verdienst. Helfer wie er sind hier unverzichtbar geworden. Dabei ist Ibrahim selbst erst seit zwei Wochen in der Zeltstadt – nach fast drei Wochen Flucht von Aleppo über den Balkan. „Die Situation in Syrien hat mich krank gemacht“, sagt er. „Keine Hoffnung. Nur Krieg und Warten. Aber wie lange?“ Also hat er seinen Job als Ingenieur aufgegeben. Er bekam Geld von seinen Eltern und machte sich auf den Weg. Obwohl er von Bekannten gehört hatte, dass es nicht einfach sei in Europa, in Deutschland. Dass man hier lange in chaotischen Camps leben müsse, nicht arbeiten könne. Ibrahim macht das nichts aus. Er mag Stuttgart. Manchmal geht er nebenan bei der Teststrecke von Daimler Autos beobachten. Oder auf den Weihnachtsmarkt. Auch mit dem Deutsch lernen hat er begonnen, das hat nun Priorität. Zumindest nachts, nach dem Arbeiten. „Solange ich gebraucht werde und mithelfen kann, bin ich glücklich“, sagt er.

Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf die Kieswege zwischen den großen Zelten. Ein paar junge Männer spielen Fußball, im großen Aufenthaltszelt sitzen einige Menschen beim Schwarzen Tee oder beim Handyladen. Aus einer Ecke des Zeltes sind Kinder zu hören: Hier, hinter hohen Sichtwänden vom Trubel abgeschirmt, unterrichten Batul Mohammadi und ihre Kolleginnen die Kinder in Farsi, malen und spielen mit ihnen – jeden Tag von etwa 10 bis 21 Uhr. An die 30 Kinder seien meist in der Ecke, sagt Batul Mohammadi, die kleine Iranerin mit dem roten Kopftuch. „Es wäre gut, wenn jemand Deutschunterricht mit den Kindern machen würde“, übersetzt eine Dolmetscherin ihre Worte. Bisher gibt es keine Ehrenamtlichen für Sprachunterricht.

Viel zu tun ist nun nicht mehr bis zum Abendessen. Vor den Zelten ist es zu dunkel, um Fußball zu spielen. Und zu kalt. Es ist ruhig geworden, nur die Heizanlagen dröhnen ununterbrochen. Um 18.30 Uhr beginnt das Abendessen, doch im Essenszelt ist es noch ruhig. „Meistens kommen die Leute erst ein bisschen später”, sagt einer der Sicherheitsmitarbeiter. Und tatsächlich: eine Viertelstunde später reicht die Schlange der Wartenden fast die gesamte Zeltwand entlang. Das Abendessen besteht aus Hähnchen, einem Stück Gurke und zwei Tomaten. Richtig satt macht die Portion nicht. Die Menschen essen und unterhalten sich, die meisten bleiben nicht allzu lange, was auch daran liegt, dass es im Essenszelt heute weitaus kälter ist als in den anderen Zelten. Wer trotzdem bis ganz zum Schluss bleibt, kann sich noch einen Nachschlag ergattern – ohne zweite Wertmarke.

Am Abend wird getanzt, gesungen und erzählt

Nach dem Essen stellt eine junge Frau in der Kinderecke den CD-Spieler an. Der Bass aus den Lautsprechern sucht sich seinen Weg durch das große Zelt hinaus in die kalte Winterluft und lockt eine Gruppe von Kindern an, die grinsend und kreischend in die Kinderecke strömen. Hier tanzen Frauen und Kinder gemeinsam. Eine Frau zeigt einem kleinen Mädchen, wie es seine Arme zur Musik bewegen soll. Daneben schlingt eine junge Frau mit langen, braunen Haaren ein Tuch um ihre Taille. Hüften kreisen, mit hohen Schreien bekunden die Zuschauerinnen ihre Bewunderung, die Tänzerin fordert sie zum Mitmachen auf.

Aus dem Aufenthaltszelt ist um 22 Uhr immer noch gedämpfte Musik zu hören. Eine kleine Gruppe Männer tanzt im Wechsel zu orientalischen Klängen, dazwischen hüpfen ein paar Kinder, einige Frauen klatschen im Takt. Fazelhaq hat sich als Erster aufs Parkett getraut. Der 25-jährige Afghane tanzt hier fast jede Nacht. „Weil ich glücklich bin“, sagt er. Glücklich, dass er im sicheren Deutschland ist, nicht mehr in Afghanistan.

Eine doppelte Zielscheibe für die Taliban

Die Dolmetscherin Nafisa zeigt auf eine Frau: „Mit ihr müsst ihr sprechen.“ Sakinas rundliches Gesicht ist sorgfältig geschminkt. Sie schaut freundlich, strahlt aber eine tiefe Traurigkeit aus. Die 30-Jährige ist geschieden und allein mit ihren drei Kindern nach Deutschland geflohen. Sie holt ihr Handy hervor: Darin sind alle ihre Erinnerungen gespeichert. Ihr größter Stolz neben den Bildern ihrer Kinder sind Schnappschüsse, die sie in Uniform zeigen: In Afghanistan war Sakina Offizierin des dortigen Militärs und stand einer weiblichen Brigade vor. Unter schwarzen Baretts tragen die Frauen dunkelgrüne Kopftücher. Als geschiedene Frau und Militärangehörige sei sie für die Taliban eine doppelte Zielscheibe gewesen, erzählt sie mit leiser Stimme. Vor sechs Jahren wurde sie mit einer Gruppe afghanischer Frauen vom amerikanischen Präsidenten nach Washington eingeladen und dort für ihr Engagement ausgezeichnet. Jetzt arbeitet Sakina in den Zelthallen im Waschraum mit. Für zehn Stunden Arbeit bekommt sie zehn Euro.

Um viertel nach drei lädt der Nachtschichtführer Mohammed Alilou zu einem Kontrollgang über das Gelände ein. Die riesigen Heizöltanks müssen alle zwei, drei Stunden überprüft werden. „Damit es überall schön warm ist“, sagt er. Draußen ist es mittlerweile wieder eisig kalt: minus ein Grad Celsius, die meisten der Sicherheitsleute sitzen in ihren warmen Zelten. Mohammed, der Chef, klettert über Heizschläuche und Stangen, drängt sich an den Absperrungen und Belüftungsschächten vorbei. Mit einer Taschenlampe kontrolliert er den Ölstand in den Tanks. Die Menschen schlafen, alles ist still, nur ab und zu geht jemand zu den Toiletten. Salah kommt um kurz vor sechs Uhr wieder zur Schichtablöse: „Wie war die Nacht?“ Ein neuer Tag in der Stuttgarter Zeltstadt bricht an.

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