Fast 40 Jahre fanden in dem Dorf bei Sigmaringen Flüchtlinge aus aller Welt eine provisorische Heimstatt. Nun wird die Gemeinschaftsunterkunft geschlossen. Sie habe Laiz bereichert, findet der Ortsvorsteher.

Sigmaringen - In zwei Wochen steigt ein großes Fest im sogenannten Gelben Haus in Laiz. Es ist ein Abschiedsfest. Nach 38 Jahren schließt die Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in dem der Stadt Sigmaringen zugehörigen Dorf. Fast vier Jahrzehnte lang keuchten Busse die Römerstraße hinauf und spuckten Menschen aus allen Weltgegenden aus: Boatpeople aus Vietnam, Asylbewerber aus Afrika, Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien, dann Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Syrien. Das Strandgut des menschlichen Leids: Verlorene und Verworfene, Suchende und Hoffende. In einem kleinen Ort verdichtet sich der Lauf der Welt.

 

Errichtet wurde das Gelbe Haus, das seinen Namen der Fassadenfarbe verdankt, als Brauereigebäude. „Um 1900“, so schreibt der Sigmaringer Kreisarchivar Edwin Ernst Weber, „versorgte die Löwenbrauerei der Gebrüder Frank rund 50 Gaststätten in einem Umkreis von rund 30 Kilometern als regelmäßige Abnehmer.“ Die Franks waren jüdischer Abstammung, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verloren sie – von ihren Mitbürgern verfemt und gemieden – Hab und Gut und auch die Heimat. Nach dem Krieg beherbergte das Haus unter anderem eine Großbäckerei, auch die Modefachschule Sigmaringen war vorübergehend dort untergebracht.

Wolfgang Querner, der Ortsvorsteher, war selbst noch ein junger Mensch, als die Boatpeople aus Indochina in Laiz anlandeten. Viele im Dorf hätten damals die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, erinnert sich der 51-Jährige, aber in all den Jahren sei ihnen nichts Schlimmes widerfahren. „Das Haus war eine Bereicherung“, sagt er. „Wir sind in Laiz und Umgebung ziemlich bunt.“ Auf die Frage, ob die Gemeinde mit ihren etwa 3000 Einwohnern weltoffener geworden sei dank des Gelben Hauses, antwortet er: „Definitiv.“ Auch wenn es Zeiten gegeben habe, in denen die Feuerwehr etwas zu oft des Nachts durch den Ort in Richtung Übergangsheim brauste, weil mal wieder ein Bewohner an der Herdplatte unachtsam war.

In der Nachbarschaft wohnen die Kretschmanns

Johannes Kretschmann (38), Sohn des prominentesten Laizer Bürgers Winfried Kretschmann, resümiert: „Hier trifft man vielerorts auf eine offene Gesellschaft, wie man sie sich als Grüner wünscht. Wer sich einbringt, ist in der Regel willkommen, unabhängig von seiner Herkunft. Wer sich im Ehrenamt engagiert, gehört dazu.“ Kretschmann steht hinter dem Pilstresen beim Gartenfest der Musikkapelle Laiz, gemächlich treibt die Donau dem Hohenzollernschluss entgegen. Die Tische sind dicht besetzt, sogar am Montagabend. Natürlich gebe es auch Vorbehalte gegen Flüchtlinge, sagt Kretschmann, aber auch wer politisch ganz anders ticke, „hilft mit, wenn es konkret etwas zu tun gibt“.

Nach all den Jahren ist das Haus abgewohnt, es kommen weniger Flüchtlinge, außerdem hat der Landkreis in Sigmaringen zwei andere Unterkünfte gekauft. Derzeit verfüge der Kreis über 600 Plätze in der vorläufigen Unterbringung, berichtet Landrätin Stefanie Bürkle. Aber wären Flüchtlinge in größeren Städten nicht besser aufgehoben als in einem kleinen Ort wie Laiz? Lassen sie sich in Dörfern integrieren? Vielleicht sogar besser als in den Städten, antwortet die Landrätin. „Weil sie dort häufig auf sehr hilfsbereite Menschen treffen und erfahren, dass sie nicht anonym sind.“ Die Menschen achteten mehr aufeinander, sagt Bürkle, menschliche Bindungen hätten auf dem Land einen höheren Stellenwert. Auch in Laiz habe sich anfangs Widerstand gegen ein Flüchtlingsquartier gezeigt. In alten Zeitungsberichten sei von einer Bürgerinitiative gegen die Unterbringung von Asylsuchenden die Rede. Doch als dann die ersten Boatpeople aus Vietnam ankamen, sei eine Welle der Hilfsbereitschaft angelaufen

Drei ehemalige Bewohner sind noch einmal ins Gelbe Haus zurückgekehrt, an jenen Ort, an dem ihr Weg in die deutsche Gesellschaft begann. Sie repräsentieren unterschiedliche Flüchtlingsgenerationen. Was sie erzählen, das zeigt: Es ist möglich, in Deutschland eine neue Heimat zu finden.

Das Ehepaar aus Vietnam

Sechsunddreißig Stunden trieb Nguyen Van Tinh mit seinen Gefährten auf dem Seelenverkäufer im Südchinesischen Meer, ehe sie am Horizont ein großes Schiff entdeckten, von dem sie nicht wussten, ob es ihnen die Rettung bringen würde oder den Tod. 127 Flüchtlinge kauerten auf dem selbst gebauten Boot, zehn Meter lang und keine drei Meter breit. Sie kamen aus einem Dorf im Delta des Flusses Mekong: Nguyen Van Tinh, seine Frau Pham Thi Ngoc, die Kinder, Verwandte und Freunde – alle auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime, das den Katholiken in Vietnam besonders zusetzte.

1975 hatte der Vietcong die südvietnamesische Hauptstadt Saigon erobert. Im Jahr darauf scheiterte ein erster Fluchtversuch Nguyens, er verschwand für drei Jahre im Gefängnis. Als er wieder freikam, musste er sich morgens und abends auf der Polizeiwache melden. Am 12. November 1980 brach er erneut auf zur Fahrt übers Meer – und in ein ungewisses Schicksal. Etwa 250 000 Bootsflüchtlinge sollen auf dem Ozean die Freiheit gesucht und den Tod gefunden haben.

Das Schiff näherte sich langsam. Es war später Nachmittag. In wenigen Stunden, so gegen Mitternacht, erzählt Nguyen, mittlerweile 69 Jahre alt, sollte ein heftiger Sturm aufkommen, den sie auf ihrem Boot kaum überstanden hätten. Aber das wussten sie damals noch nicht, als das Schiff beidrehte. Immerhin führte es nicht die Flagge des kommunistischen Vietnam. Es war ein Frachtschiff, die Cap Anamur, die zwei entschlossene Menschen in Deutschland, Rupert Neudeck und seine Frau Christel, zu einem Hospitalschiff umgerüstet und auf den Weg ins Südchinesische Meer geschickt hatten, um Menschen vor dem Tod zu bewahren. Über Singapur gelangten die Geretteten nach Deutschland und nach Laiz, wo sie 1981 im Gelben Haus als Kontingentflüchtlinge für eine Übergangszeit unterkamen.

Im Jahr darauf wechselte die Familie vom Gelben Haus zum jenseits der Pfarrkirche St. Peter und Paul gelegenen Litschenberg. Es war das Anwesen, das frei geworden war, als Gerlinde Kretschmanns Vater mit seiner Landwirtschaft „aussiedelte“, also vors Dorf zog. Später übernahmen Winfried Kretschmann und seine Frau Gerlinde das Haus, als die Familie von Echterdingen nach Laiz kam. Schnell fand Nguyen Van Tinh eine Beschäftigung als Waldarbeiter. Nach acht Jahren wechselte er in eine Fabrik in Sigmaringendorf. Sechs Kinder zogen er und seine Frau auf, elf Enkel folgten. Er engagierte sich in der Kirchengemeinde, das war ihm wichtig, die Kinder machten bei den Ministranten mit.

„Alle Vietnamesen haben ihren Weg gemacht“, sagt Susanne Spasov, die von 1980 bis 2005 für die Caritas als Sozialarbeiterin in dem Haus arbeitete. Gleich nebenan wohnt der Religionswissenschaftler Johannes Kretschmann. „Die Vietnamesen hatten ihren eigenen Integrationspfad, der lief über die Kirche“, sagt er. Als Kind spielte er mit den jungen Vietnamesen, versah mit ihnen den Ministrantendienst. „Sie legten Wert auf Bildung, sie hatten den Willen zum Aufstieg“, sagt Kretschmann. Das sei entscheidend gewesen. Eine wichtige Rolle habe auch ihr Katholizismus gespielt. „Der war die Brücke in die Gesellschaft.“

„Stimmt“, sagt Dekan Christoph Neubrand im Laizer Pfarramt, wenige weitere Schritte die Römerstraße hinab. „Über das gemeinsam Katholische gab es eine große Offenheit.“ Für jede vietnamesische Familie habe sich eine Patenfamilie gefunden, die den Neuankömmlingen half, sich im Alltag zurechtzufinden, bei Behördengängen oder in der Schule. „Damals fing für Laiz das Thema Migration an.“

Der Deutsche aus dem Kosovo

Dass Bujar Zeqiri aus dem Kosovo stammt, merkt man ihm nicht an – auch wenn er widerspricht und auf seine Hauttönung verweist, die etwas dunkler sei als sonst in hohenzollerischen Landen. Es scheint, als wolle er sich eine kosovoalbanische Restidentität bewahren.

Eigentlich wirkt und redet Bujar Zeqiri ganz so, als hätten er und seine Vorfahren immer schon hier gelebt. Er strahlt das Selbstbewusstsein derer aus, die zupacken können und wissen, dass sie etwas leisten. Er wohnt mit seiner Frau und den beiden Mädels, neun und sechs Jahre, in Biberach, hat einen guten und verantwortungsvollen Job in einem Betrieb der Metallverarbeitung. Die Eltern und seine Schwestern leben im Kosovo. Jedes Jahr fährt er hin, er kümmert sich. „Ich gehe gern nach Kosovo“, sagt der 41-Jährige, „aber wenn ich zurückfahre, komme ich in meine Heimat. Wir leben hier doch im Paradies.“

Die alte Heimat hatte er verlassen, als 1992 mitten im Jugoslawienkrieg der Gestellungsbefehl für die Armee ins Haus flatterte. „Nicht mit mir“ , sagte er sich und beschloss, in die Schweiz zu flüchten. Da hatte er eine Tante, die aber abriet, weil es schwer sei, dort Asyl zu erhalten. Also Deutschland. Aber auch hier war es nicht leicht: „Ich dachte, ich gehe verloren.“

Er lernte schnell Deutsch, doch mit Schule und Arbeit war es erst einmal nichts. „Ich ging von einem Bauern zum nächsten, aber es klappte nicht.“ Schließlich hatte er Glück beim Maler Henselmann in Laiz. Der besorgte ihm eine Arbeitserlaubnis, für die aber über Jahre hinweg alle zwei, drei Monate eine Verlängerung beantragt werden musste. 14 Jahre arbeitete er als Maler, dann schulte er um CNC-Dreher und -Fräser um. Lange durchlitt er in seinen Träumen die Abschiebung. Sie blieb aus, sie wird ausbleiben. Er ist jetzt Deutscher.

Der Neuankömmling aus Syrien

So weit wie Bujar Zeqiri ist Hassan Cheikhmous noch nicht. Aber er ist auf einem guten Weg. Ernst wirkt er, zurückhaltend, doch wenn man ihn anspricht, dann taut er auf und erzählt von seiner Flucht aus Kobane, der kurdischen Stadt an der syrisch-türkischen Grenze, die mit Mühe gegen die Angriffe des Islamischen Staats verteidigt werden konnte. Cheikhmous gehört einer neuen Generation von Flüchtlingen an, die sich mit GPS orientiert und mit dem Smartphone hantiert. „Im Internet gab es alle Infos“, erzählt der 30-Jährige von seiner Flucht.

Nur Frieden gibt es im Internet noch nicht. Auch Hassan Cheikhmous entfloh der Armee. An Heimkehr ist vorläufig nicht zu denken. „Kobane ist zerstört“, sagt er. „Ich will nicht immer von null anfangen.“

2014 kam er an. Ein Jahr verbrachte er im Gelben Haus, derzeit ist er in der Anschlussunterbringung in Sigmaringendorf, eine Wohnung in Sigmaringen steht in Aussicht. Er ist als Flüchtling für drei Jahre anerkannt. Lässt er sich nichts zuschulden kommen, wird er wohl dauerhaft in Deutschland leben können. Das ist seine Perspektive. Er absolviert in Laiz eine Ausbildung als Automechatroniker, dazu kommt ein Minijob bei einer Firma, die Autoteile herstellt. Er ist auch in der Freizeit aktiv: als Bühnenarbeiter und in einer „stillen“ Rolle bei der Waldbühne in Sigmaringendorf: Woody Allens Komödie „The Purple Rose of Cairo“ hatte dort am Wochenende Premiere. Er spielt Fußball im Verein und macht bei der Feuerwehr mit. Er wolle bleiben, sagt Cheikhmous. Aber noch ist er skeptisch.

Ende September wird das Gelbe Haus leer sein. In Spitzenzeiten waren dort bis zu 230 Menschen aus 26 Nationen untergebracht. Im Landratsamt Sigmaringen blättert Anja Schäfer, Leiterin des Fachbereichs Recht und Ordnung, in ihren Unterlagen zur Geschichte der Gemeinschaftsunterkunft. Sie erinnert an die jüdische Familie Frank, deren einstige Brauerei nun so viele Jahre Flüchtlingen zumindest vorübergehend eine Heimat gegeben habe. Dass diese Menschen nicht wie die Franks vor Deutschland flohen, sondern in Deutschland Schutz suchten – dies, sagt sie, sei am Ende doch ein versöhnlicher Gedanke.