Auf der Inselgruppe Spitzbergen haben einst Bergleute Kohle gefördert. Heute überwintern dort Wissenschaftler – nur gut 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt. Sie dokumentieren den Klimawandel: vermessen die Gletscher und zählen die Eisbären.

Ny-Ålesund, Spitzbergen - Zur Mittagszeit treffen sich alle Dorfbewohner zum gemeinsamen Essen. In der Kantine wurde viel Holz verarbeitet. Die Stühle sind so bunt wie die Häuser in Ny-Ålesund. Eine willkommene Abwechslung für das Auge, denn die vorherrschende Farbe rund um die nördlichste Siedlung der Welt ist Weiß: Der Schnee, die Gletscher an den Berghängen, das Eis auf dem Wasser der Bucht. In Ny-Ålesund überschreitet die Temperatur selten den Gefrierpunkt. Und im Winter, wenn die Sonne monatelang nicht am Himmel erscheint, sind Farben für die Psyche noch wichtiger. „Wir legen sehr viel Wert auf Gemeinschaft, gerade in der dunklen Zeit spielt das eine sehr große Rolle“, sagt Asne Dolve Meyer von KingsBay, einer norwegischen Firma, die das Dorf managt.

 

Aber Ny-Ålesund ist kein Refugium für Aussteiger, die einen neuen Gesellschaftsansatz proben wollen. Es ist ein Zentrum der Wissenschaft. Als die Bergleute 1964 nach dem vierten schweren Grubenunglück in 24 Jahren die Kohleförderung aufgaben, zogen Forscher aus aller Welt in diese besondere Siedlung. Rund 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt untersuchen sie die Arktis oder nutzen die Abgeschiedenheit der Region. China, Südkorea, Japan, Indien, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Norwegen betreiben Forschungsinstitute. Die Nachfrage ist groß. Im Sommer ist es manchmal schwer, ein freies Bett zu bekommen.

„In Winter leben in Ny-Ålesund etwa 45 Menschen“, sagt Dolve Meyer. Der harte Kern. Die Hälfte davon gehört zu Dolve Meyers Team: Köche, Ingenieure und Handwerker, die Flughafen und Hafen betreuen, das Dorf instandhalten und seine Bewohner versorgen. Der Rest sind Wissenschaftler, die auch während der Monate ohne jegliches Sonnenlicht täglich ihre Messungen absolvieren. Viele dieser Beobachtungen laufen seit Jahren, manche seit Jahrzehnten. Das Radioteleskop in der Nähe des kleinen Flughafens zum Beispiel, mit dem sich die Verschiebung der Kontinentalplatten beobachten lässt. Zwei neue Teleskope werden gerade gebaut. Die Antennen sind so empfindlich, dass Handys und Bluetooth in dem kleinen Ort verboten sind. Als Ausgleich profitieren die Bewohner vom superschnellen Internet durch ein eigenes Glasfaserkabel.

Hier zweifelt niemand am Klimawandel

Auf dem Dach des norwegischen Polarinstitutes und weiter draußen, auf dem Zeppelinberg, werden Schadstoffe gemessen, die bis in die Einsamkeit von Ny-Ålesund getragen werden. Nebenan, in der deutsch-französischen Station, lassen Stationsleiterin Verona Mohaupt und ihr Team täglich einen Wetterballon aufsteigen. Einmal in der Woche hängt zusätzlich eine Ozonsonde am Heliumballon. Die Liste der Aufgaben am Alfred-Wegener-Institut ist lang. „Wir sind die Messknechte für mehr als 40 Forschungsprojekte“, sagt Mohaupt mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ein Laser untersucht die Zusammensetzung der Aerosole in der Atmosphäre. Auf dem Meeresgrund vor der Küste steht eine Sonde mit Unterwasserkamera, die Sauerstoffgehalt und Säuregehalt des Wassers misst. Die Daten aus dem hohen Norden werden direkt an die Wissenschaftler in Deutschland weitergeleitet und für weltweite Netzwerke zur Verfügung gestellt. Das Team, das sich ironisch als Messknechte bezeichnet, besteht in Wirklichkeit aus Allroundern, die auch unter widrigen Umständen den Betrieb der teils komplizierten Messgeräte sicherstellen.

Traditionell bildet die Polarforschung einen Schwerpunkt in Ny-Ålesund. Der Polarforscher Roald Amundsen startete dort 1926 mit einen Zeppelin zum ersten Flug über den Nordpol. „Er hat den Ort ausgewählt, weil es dort durch den Bergbau eine Telegrafenstation gab, die den Kontakt zur Außenwelt ermöglichte“, erklärt Asne Dolve Meyer. Der Startplatz existiert noch heute. Die hohe Fensterfront der Lounge im ersten Stock des Kantinengebäudes erlaubt einen atemberaubenden Blick auf den Fjord mit dem Zeppelinmast. Seit den 1960er-Jahren beobachten die Forscher die Gletscher der Umgebung von der Station Corbel. Ein Außenposten der Menschheit, sechs Kilometer vom Ort entfernt. Sie können das Verhalten der Gletscher mittlerweile mit 3-D-Modellen simulieren.

Die Forscher sind Buchhalter eines Untergangs

„Wer heute über die Arktis forschen will, muss nach Spitzbergen kommen“, sagt Kim Holmén, Internationaler Direktor des norwegischen Polarinstituts. Er lebt in Longyearbyen, mit 2000 Einwohnern der größte Ort der Inselgruppe. Wie die meisten Siedlungen einst von Bergleuten gegründet. Die Zukunft von Longyearbyen sieht anders aus: Individualtouristen, die Polarlichter schauen oder Touren mit Boot, Schneemobil oder Hundeschlitten machen, manchmal Kreuzfahrtschiffe – allerdings wurden diejenigen, deren Schiffmotoren mit Schweröl betrieben werden, seit Anfang des Jahres aus der Region verbannt. Der Ort verfügt über 900 Hotelbetten. Und die Wissenschaft: An der Universität studieren mittlerweile 700 Studenten. Auf einem Bergplateau steht ein Antennenpark, der die Daten von zahlreichen Satelliten aus dem Weltraum empfängt.

In dieser Stadt gibt es keine Zweifler am vom Menschen gemachten Klimawandel. Die Gletscher gehen zurück. Aus der Luft sieht man es noch nicht, aber jedes Jahr fließt mehr Schmelzwasser ab, als neues Eis entsteht. Das Wasser wird spürbar wärmer. Im vergangenen Jahrzehnt ist der Fjord nur einmal zugefroren. Die Tierwelt verändert sich. Angler ziehen mittlerweile sogar Makrelen aus dem Wasser. „Diese Region ist stärker betroffen als jede andere“, sagt Kim Holmén. Während früher die Temperaturen nur knapp unter dem Gefrierpunkt blieben, klettern sie derzeit häufiger über die Null-Grad-Marke. „Wenn Eis und Schnee geschmolzen sind, nimmt der dunkle Boden mehr Sonnenlicht auf“, erklärt Holmén, „dadurch wird es noch ein bisschen wärmer.“ Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Nordpol im Sommer eisfrei bleibt. Im Jahr 2030 vielleicht, doch die Jahreszahl spielt hier keine Rolle. Denn die Zukunft wird hier Gegenwart. „Schon heute könnte ein Eisbrecher selbst im Winter das Polareis mühelos durchqueren“, sagt Holmén. Das alte Eis werde immer weniger, das junge Eis erreiche nur eine Stärke von gut einem Meter.

Welche Auswirkungen der Wandel auf das Ökosystem hat, wird von den Forschern dokumentiert. Sie sind so etwas wie die Buchhalter des Untergangs. „Manche Tiere werden sich anpassen können“, sagt Holmén, „aber nicht alle.“ Der Polarfuchs sei gut gerüstet, dem Narwal gibt Holmén kaum eine Chance. Ein Team deutscher Forschungstaucher aus Helgoland wird vor Ny-Ålesund bis August etwa 300 Tauchgänge absolvieren, Algen sammeln und weiter an der Bestandsaufnahme von Flora und Fauna arbeiten. Im August läuft auf Spitzenbergen und dem benachbarten Franz-Josef-Land die nächste Zählung der wild lebenden Eisbären. Hubschrauber mit vier Mann Besatzung fliegen dann entlang einer vorbestimmten Route. Dort, wo die Helikopter nicht fliegen, wird die Zahl der Eisbären entsprechend der Ergebnisse ähnlicher Regionen geschätzt. Die letzte Zählung dieser Art erfolgte 2004, damals wurde der Bestand mit 2650 Tiere ermittelt. „Wir wissen nicht, wie das Ergebnis in diesem Jahr ausfallen wird“, sagt Holmén. Manche Forscher vermuten, dass das zurückgehende Eis die Jagdchancen der Bären verschlechtert.

Die Überlebenden sehen sich anderen Gefahren ausgesetzt. Im Fettgewebe der Tiere weisen die Forscher Umweltgifte nach, besonders schnell steigt die Menge der Flourine, die für wasserfeste Materialien verwendet werden. In den Mägen der Vögel findet sich immer mehr Plastikmüll. Wie immer es auf Spitzbergen weitergeht: „Niemand wird sagen können, er habe nichts davon gewusst“, bilanziert Holmén. In seinem Vorträgen zeigt er gern die erste wissenschaftliche Arbeit zum menschlichen Einfluss auf den Rückgang des Polareises. Sie stammt aus dem Jahr 1956.