Ein vermeintlicher Schädling schafft, wovon Förster nur träumen können: Der Bergfichtenwald kehrt in die Hochlagen des Nationalparks Bayerischer Wald von selbst zurück – und ist gesünder als Wirtschaftswald.

Von den schlanken Fichten hoch oben im Bergwald am Siebenkopfstein mitten im Nationalpark Bayerischer Wald ragen nur noch kahle Skelette in den blauen Himmel. Wie die Stoppeln eines Dreitagebarts stechen die Reste von Ästen aus den nackten Stämmen. Seit der Borkenkäfer in den 1980er und 1990er Jahren auf riesigen Flächen grüne Fichten in Totholz verwandelt hat, steht nur wenige Hundert Meter von der tschechischen Grenze entfernt eine Art Geisterwald. „Nie mehr wird dort ein Wald wachsen“, fürchteten damals viele Menschen und nicht zuletzt auch die Staatsforstverwaltung. Der damalige Leiter des Nationalparks Hans Bibelriether aber stand die Proteste durch, die heute wohl „Shitstorm“ genannt würden. Heute gibt die Natur ihm recht, wie Bibelriether auf einem Spaziergang mit seinem Nachfolger Franz Leibl zeigt: Am Hang zwischen den toten Skeletten wachsen saftig grüne Fichten, zwischen denen immer wieder tiefrot die Früchte der Vogelbeeren leuchten.

 

„Zum ersten Mal seit Jahrhunderten kommt in Mitteleuropa hier ein Wald von selbst wieder hoch“, erklärt der Forstwissenschaftler und Chef des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (BUND) Hubert Weiger. „Und wir können beobachten, wie der Borkenkäfer aus einem alten einen jungen Fichtenwald macht“, ergänzt Leibl. Begonnen hat diese Entwicklung am 7. Oktober 1970 mit der Gründung des Nationalparks Bayerischer Wald unmittelbar an der Grenze zur Tschechoslowakei. „Damals war das Klima noch kälter“, erinnert sich Bibelriether. In den Hochlagen über 1150 Meter lag in den 1970er Jahren jedenfalls oft noch Ende Mai und Anfang Juni eine geschlossene Schneedecke. An dieses harsche Klima mit langen Wintern ist die Fichte hervorragend angepasst, Bergfichtenwälder sind daher typisch für die Hochlagen. Völlig gesund aber waren die Bäume damals nicht. Immer wieder trugen die Westwinde aus den Industrieregionen die Luftverschmutzung in den Bayerischen Wald.

Totes Holz ist gefundenes Fressen für Borkenkäfer

1983 werfen dann heftige Gewitterstürme auf einigen Flächen die so geschwächten Fichten um. „Gerade einmal sechs Wochen davor gab es einen Beschluss, in solchen Fällen in der Kernzone des Nationalparks den Windwurf nicht mehr zu beseitigen, sondern das Holz einfach liegen zu lassen“, so Bibelriether. Für den Borkenkäfer aber war das tote Holz ein gefundenes Fressen. Ähnliches passiert, wenn es im Frühjahr bei Temperaturen knapp über null Grad ausgiebig schneit, und die gewaltige Last des schweren, nassen Schnees etliche Fichten zusammenbrechen lässt. Auch dann knabbern die Borkenkäfer am toten Holz. Bei einer gesunden Fichte haben sie dagegen kaum eine Chance, weil der Baum sich mit klebrigem Harz gegen den Angreifer wehrt.

1986 war dann die Borkenkäferpopulation so stark angewachsen, dass auch gesunde Fichten ihrem Ansturm nicht mehr gewachsen waren. Sie konnten gar nicht so viel Harz produzieren, um alle Käfer abzuwehren. Unbehelligt bohren die erwachsenen Weibchen nun Gänge in die Fichten und legen dort ihre Eier ab. Die Leibspeise der Larven ist die Bast genannte Schicht unter der Rinde, in der die Baumsäfte fließen. Gibt es viele Larven, schneiden sie dem Baum mit der Zeit die Lebensadern ab. Am Ende stirbt die Fichte und die nächste Borkenkäfer-Generation schwärmt aus. Immer weiter breiteten sich die Borkenkäfer aus, bis 1989 ihre Population zusammenbrach, zumindest vorläufig.

Inzwischen hatte der Klimawandel nämlich auch die Hochlagen des Bayerischen Waldes erreicht. Die Winter wurden kürzer, der Schnee schmolz früher und die Sommer waren wärmer. Borkenkäfer aber lieben die Wärme und vermehren sich dann schneller. 1993 registrierte der Bayerische Wald dann einen „Jahrhundertsommer“, der die nächste Massenvermehrung des Borkenkäfers startete. Seither fressen die Larven sich immer weiter durch die Wälder. Am Ende des 20. Jahrhunderts ging der Befall wieder zurück, nur um vom trockenen und heißen nächsten Jahrhundertsommer 2003 wieder zur nächsten Massenvermehrung getrieben zu werden. Seit 2008 bricht auch diese Welle wieder zusammen. Zurück bleiben die nackten Skelette der abgestorbenen Fichten, von denen immer wieder einige von Stürmen und starken Niederschlägen umgeworfen werden.

Totholz schützt die kleinen Bäumchen vor der rauen Witterung

Zwischen diesem Totholz aber fällt viel mehr Licht auf den Waldboden als in grünen Wäldern. Die vom Wind dorthin getragenen Samen keimen in der Sonne besonders gut. Obendrein schützt das Totholz die kleinen Bäumchen vor der rauen Witterung der Hochlagen. Langsam zersetzt sich das tote Holz und versorgt dabei die kleinen Pflanzen mit Nährstoffen. Offensichtlich klappt das hervorragend, 2011 zählten die Nationalparkmitarbeiter auf einem einzigen Hektar 4363 kleine Bäumchen. Das aber ist viel mehr als nach den Richtlinien in einem Bergwald gepflanzt werden sollten. „Normalerweise setzt man 2000 bis 2500 Pflanzen auf einen Hektar“, erklärt Franz Leibl.

Die Natur übertrifft also den Förster auf zwei Beinen deutlich. Und sie trifft auch die richtige Mischung, die für einen natürlichen Bergwald typisch ist. Mit 89 Prozent stellen die Fichten den weit überwiegenden Teil aller Bäume, auf Platz zwei folgt mit sieben Prozent die Vogelbeere. Den Rest teilen sich mit geringem bis sehr geringem Anteil dann Buchen, Weiden, Birken, Aspen, Berg-Ahorn und Latschen.

Harte Auslese lässt robuste Bäume überleben

Manche Bäumchen wachsen ein wenig schneller als andere, die daher bald im Schatten stehen und mit der Zeit absterben. Die Zusammensetzung des neu entstehenden Bergwaldes ändert sich so laufend. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Bäume ab, bis am Ende rund 500 Bäume auf einem Hektar übrig bleiben. Von neun Bäumchen bleibt so nur ein Baum übrig. „Auch diese harte Auslese kommt dem Wald zugute, weil am Ende nur die Bäume stehen bleiben, die an dieser Stelle am besten wachsen“, erklärt Bibelriether. Werden dagegen im Wirtschaftswald die Bäumchen gepflanzt, müssen viele von ihnen auch an Stellen wachsen, die ein wenig ungünstiger sind. Der junge Wald auf den Borkenkäfer-Flächen ist daher auch noch gesünder. Allerdings wächst dort auch kein Wald wie am Stadtrand, in dem die Bäume sauber in langen Reihen stehen. Ganz im Gegenteil wachsen die Bäumchen an manchen Stellen sehr dicht, während andernorts fast gar nichts hochkommt, weil zum Beispiel ein Wurzelteller einen tiefen Schatten wirft.

Anfangs fürchteten die Nationalpark-Mitarbeiter auch, dass ähnlich wie im Wirtschaftswald, das reichlich äsende Rotwild den Jungwald rasch wieder kahl fressen könnte. „Erneut erlebten wir eine Überraschung“, berichtet Bibelriether. Schließlich gibt es im Bayerischen Wald keine Gämsen, die liebend gern klettern, sondern viel Rotwild. So ein Hirsch steigt aber kaum einmal über die kreuz und quer am Waldboden liegenden, vom Borkenkäfer gefällten Stämme. Bibelriether zieht eine verblüffende Schlussfolgerung: „Windwurf, Schneebruch und Borkenkäfer sind die Methoden, mit denen die Natur aus einem instabilen Förster-Forst einen stabilen Naturwald macht.“

Hungrige Borkenkäfer

Käferarten
154 Arten von Borkenkäfern gibt es in Europa, weltweit könnten es 5000 Arten sein. Fast alle von ihnen knabbern am Holz diverser Gewächse. Auch von deutschen Laubbäumen ernähren sich verschiedene Arten, mit denen die Gehölze aber meist gut zurecht kommen.

Buchdrucker
Anders ist die Situation bei der Art „Buchdrucker“ und manchmal auch beim „Kupferstecher“. Beide können Fichtenwäldern Probleme bereiten. Und das nicht erst seit heute. Bereits vor 300 Jahren gab es in den Kammlagen des Bayerischen Waldes Massenvermehrungen der Buchdrucker.

Rettung
Befallene Fichten müssen gefällt werden, bevor die fressenden Larven sich im Baum zu neuen Käfern verpuppen. Die Stämme müssen mindestens 500 Meter aus dem Wald heraus geschleppt werden, um sie dort zu lagern. Weiter fliegen die erwachsenen Käfer nämlich nur selten