Götz Wintterlin dokumentiert mit einer Fotoserie den Bau des Dorotheenquartiers. Die Bilder sind hintergründig, versehen mit verborgenen Seitenhieben.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Schnappschüsse werden – sofern nicht ohnehin nur auf Handydisplays herumgezeigt – selten auf Plakatformat gedruckt. Auf einen flüchtigen Blick wirken Götz Wintterlins Fotos trotzdem wie schnell Geknipstes. Zu sagen, das nervt den Fotografen, wäre übertrieben, aber „es ist schade, dass Fotos anders angesehen werden als Gemälde“, sagt er. Liebhaber des gemalten Bildes suchen stets mit Eifer nach der Aussage, die der Künstler hinter dem Offensichtlichen seines Werkes verbirgt. Dass eine Fotografie ebenfalls nicht allein die Realität, sondern ebenfalls die Gedanken ihres Erschaffers spiegelt, kommt nur wenigen in den Sinn.

 

Wintterlin betreibt im Bohnenviertel eine Galerie im Esszimmerformat. Sein neustes Vorhaben ist, vom Abriss bis zur Neueröffnung das Entstehen des Dorotheenquartiers zu dokumentieren. Schließlich drehen sich die Bagger nur wenige Gehminuten entfernt. Auch wenn das Verb dokumentieren in die gleiche Richtung weist wie der flüchtige Blick. Bisher war seine „Motivsuche eigentlich immer nur ganz kurz“, sagt er, „ich war zwei-, dreimal da“. Und ohnehin: Das Abgebildete „ist eigentlich alles banales Zeug“. Mal sind es Menschen vor der Kaufhausfassade. Mal sind es Puppen in einem Schaufenster – in dem sich allerdings die Abrissbagger im Hintergrund spiegeln. Keines der Bilder ist eine Montage. Alle Motive hätte jedermann beim Schaufensterbummel so wahrnehmen können – banales Zeug eben.

Die Bildaussage ist schon optisch beunruhigend

Ungeachtet dessen verbergen die ersten sieben Fotografien der geplanten Serie allesamt eine Aussage, zumeist eine nicht erst gedanklich, sondern schon allein optisch beunruhigende. Die arbeitet Wintterlin bei all seinen Fotografien intensiv am Computer heraus, nicht nur bei dieser Serie. Die Gedanken, die ihn dabei treiben, mag er nicht recht preisgeben. „Die Bilder sind subjektiv, aber nicht wertend“, sagt er, „der Betrachter soll nicht nur gucken, was abgebildet ist, sondern seinen Gefühlen freien Lauf lassen“.

Einhellig dürften die Gedanken und Gefühle bei einem Schwarz-Weiß-Druck sein. Im Vordergrund zerbröseln unter den Bissen von Baggerschaufeln die Reste eines Abrisshauses zur Ruine – und wenig später selbstverständlich zu Bauschutt. Im Hintergrund gleißt die Glasfassade von Breuningers Karlspassage. Der Dampf des Wasserstrahls, der Staub binden soll, taugte auch als Rauchsäule. Das Foto könnte ebenso gut aktuell nach einem Raketeneinschlag in Israel geschossen worden sein. „Ja, das ist eindeutig das Thema Gewalt“, sagt Wintterlin. Nicht nur dieses Abbild der Baustellen-Wirklichkeit passt auf den Titel der Ausstellung: „Mein surrealer Alltag“.

Hinter manchem Foto verbirgt sich Sozialkritik

Hinter anderen verbirgt sich Sozialkritik, hinter einem Spott. Letzteres ist eine Fotografie eines zum Schotterfeld eingeebneten Altbaus, wiederum im Spiegelbild. Auf der Glasfläche selbst ist in aufgeklebten Buchstaben der Satz zu lesen: „Wir erfüllen ihre ganz persönlichen Wünsche“. Die Gedanken dazu, sagt Wintterlin wieder, „muss sich jeder selbst machen“.

Auf dem nächsten Bild zu einem Werbespruch, ebenfalls schwarz-weiß, wiederholt sich in unterschiedlicher Schriftgröße der Satzfetzen „Die schönen Dinge des Lebens“. Auf die Reklame wackelt eine gebeugte Frau zu, in abgewetztem Mantel und Kopftuch, mit einer Plastiktüte in der Rechten. Zumindest zum Titelbild seiner Ausstellung offenbart der Fotograf seine Absicht: „Wenn es keine Frauen gäbe, die so viel Geld für Schuhe zahlen, wäre das ganze Großprojekt nicht möglich.“ Das Foto zeigt Pumps im Schaufenster, deren Wert ein Preisschild mit 470 Euro ausweist. Im Spiegelbild dreht sich wiederum der Abrissbagger.