Wenn er auf die Krawalle von Freital blickt, dann fühlt sich Frank Richter manchmal fremd im eigenen Land. Der Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung spricht über die schwachen Wurzeln der Demokratie im Osten, Dialogverweigerer – und ein bisschen Hoffnung.

Berlin - Die Menschen im Osten erwarten, vom Staat enttäuscht zu werden, sagt der Chef der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen, Frank Richter. Das erzeuge Distanz zur Demokratie.
Herr Richter, vor 25 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt. Aber ein Jahr zuvor, im dramatischen Oktober 1989, dachte noch niemand, dass es so weit kommen würde. Sie waren in Dresden Gründer der „Gruppe der 20“, die aus den Demonstrationen heraus Verhandlungen mit der Staatsmacht erzwang. Wie konnte das gelingen?
Frank Richter ging 1989 auf die Straße. Heute leitet er die sächsische Landeszentrale für politische Bildung. Foto: dpa
Der 8. Oktober 1989 war ein Sonntag. Ich war Kaplan an der Dresdner Hofkirche. Seit Tagen gab es Demonstrationen. Am Abend des 7. Oktober – es war der 40. Jahrestag der DDR – waren erneut viele Menschen verprügelt und verhaftet worden. Ich wollte erreichen, dass die blinde Gewalt ein Ende findet. Als ich am Abend des 8. Oktober mit Tausenden anderen Demonstranten eingekesselt wurde, unternahm ich mit meinem Freund Andreas Leuschner den Versuch, mit den Polizisten ins Gespräch zu kommen. Wir trafen auf Detlef Pappermann, einen Polizisten in Zivil, der die Sinnlosigkeit der staatlichen Repression erkannte. Wenn wir nicht auf ihn, sondern auf einen Hardliner getroffen wären, hätte es an diesem Abend wahrscheinlich keinen Neuanfang gegeben.
Es war also Glück?
Mut und Glück, vielfaches Glück. Verschiedene Personen begriffen unabhängig voneinander, dass es so nicht weitergehen kann. Nahezu zeitgleich zu uns befand sich Oberbürgermeister Berghofer im Gespräch mit dem Landesbischof und dem Superintendenten. Währenddessen saß SED-Bezirkschef Modrow in der Semperoper und lauschte „Fidelio“, weshalb Berghofer allein entscheiden musste. Und ich rief vom Beckenrand eines Springbrunnens auf der Prager Straße dazu auf, eine Gruppe zu gründen, die mit Berghofer sprechen sollte. Das war, nebenbei gesagt, eine verrückte Sache. Aus irgendeinem Grund stellte sich der Springbrunnen genau in dem Moment ab, in dem ich zu sprechen begann. Die Menschen riefen ihre Forderungen – unter anderem Reisefreiheit, die Freilassung der politischen Gefangenen, Demonstrationsfreiheit, Zulassung des Neuen Forums. Wir sammelten die Forderungen und trugen sie am Morgen des 9. Oktober im Rathaus vor.
An diesem Tag dachten vermutlich auch Sie nicht daran, dass ein Jahr später dieser Staat nicht mehr existieren würde. Was haben Sie sich damals für Ihr Land gewünscht?
Ich habe mir gewünscht, die DDR möge bald aufhören zu existieren. Dieser Wunsch erschien mir lange wie eine schöne Illusion. Es war nicht so, dass ich die Bundesrepublik besonders toll gefunden hätte. Mir schien vielmehr klar, dass man Millionen Menschen nicht auf Dauer in Unfreiheit halten und ein Volk mit gemeinsamer Geschichte, Sprache und Kultur nicht auf Dauer teilen kann.
Und heute? Es scheint viel mehr Trennendes zwischen Ost und West zu geben, als wir gedacht hätten, oder?
Es halten sich mehr Unterschiede, als ich damals dachte. Es sind vor allem kulturelle und mentale Unterschiede. Die Menschen im Osten haben in großen Teilen andere politische Vorstellungen als die Menschen im Westen. Letztere verfügen über längere Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen System. Sie sind wirtschaftlich stärker und haben die Deutungshoheit. Viele Menschen im Osten stehen dem Staat und der Politik distanziert gegenüber. Sie betrachten beides als Importe.
Warum?
Es gibt viele Ursachen. Ich kann hier nur eine hervorheben: Der Osten Deutschlands ist die am stärksten säkularisierte Region Europas. 1989 ist das hier maßgebliche Weltanschauungsgefüge sang- und klanglos zusammengebrochen. Der Marxismus-Leninismus war für alle erkennbar funktionsuntüchtig. Aber er war ein Weltanschauungsgefüge! Die Menschen hatten in ihm einen Platz. Es gab Ideale. Staat und Ideologie versprachen Schutz vor globalen Bedrohungen. Diese Gedankenwelt zerbrach. Ich frage mich oft, was ist übrig geblieben in den Köpfen der Menschen, die zu nahezu 80 Prozent völlig areligiös sind. Die ethisch-geistigen Grundlagen unseres demokratischen Gemeinwesens sind im Osten nicht ausgeprägt. Im Westen werden sie zusehends brüchig. Zu ihnen gehören der Respekt vor der Überzeugung und der Würde des Anderen, insbesondere vor Minderheiten, sowie die Erkenntnis, dass wir fairen Streit brauchen, weil es in der Demokratie nicht um absolute Wahrheiten geht, sondern um gemeinsame Wege.