Die Meinungsforscher sehen Emmanuel Macron für die zweite Runde der Präsidentschaftswahl klar vorn, aber der Europafreund hat das Rennen gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen noch lange nicht gemacht. Eine Analyse.

Paris - Es ist noch einmal gut gegangen. Das Horrorszenario ist nicht Wirklichkeit geworden. Die Franzosen müssen sich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen nicht zwischen Rechts- und Linksradikalismus entscheiden und Europa nicht beerdigen. Das Duo Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon ist ihnen erspart geblieben. Sie stehen vor einer erfreulicheren Alternative: hier der 39 Jahre junge, weltoffene, politisch wenig erfahrene Emmanuel Macron, der die Globalisierung als Chance begreift und seine Landsleute in die Moderne zu führen verspricht; dort Marine Le Pen, die der Globalisierung die Stirn bieten, Frankreich abschotten, aus der EU lösen, vor internationaler Konkurrenz und Immigration bewahren will.

 

Hier der sich optimistisch am Brückenschlag versuchende Macron, der die Frankreichs Gesellschaft kennzeichnende Vielfalt als Reichtum preist. Dort die gesellschaftliche Gräben vertiefende Rechtspopulistin, die fremdenfeindliche Töne anschlägt und die im Lande lebenden Muslime noch mehr an den Rand drängt.

Meinungsforscher sehen Macron vorn

Und erfreulich ist auch, was die Meinungsforscher verkünden. Sie prophezeien dem sozialliberalen Erneuerer Macron mit 62 bis 64 Prozent einen klaren Sieg. Wenn es gut geht, gilt damit für Frankreich, für die deutsch-französische Freundschaft, für Europa, was der Name der von Macron gegründeten Bewegung En Marche! signalisiert: Vorwärts!

Fragt sich nur, ob es auch gut geht. Anders als die von den Meinungsforschern gereichten Zahlen suggerieren, steht Macron nämlich recht alleine da. Die Mehrheit der Franzosen ist keineswegs vom Gedanken beseelt, sich von dem jungen Strahlemann in eine von digitalem Fortschritt, offenen Grenzen und liberalem Wirtschaften geprägte Zukunft führen zu lassen. Dass er am Sonntag auf Platz eins gelandet ist, täuscht darüber hinweg, dass er nur gut acht der 47 Millionen Stimmberechtigten hinter sich gebracht hat.

Fast die Hälfte stimmt für extreme Kandidaten

Fast die Hälfte der Wähler hat am Sonntag für links oder rechts außen stehende Kandidaten gestimmt. Und auch wenn sich Macron in den Metropolen des Landes großen Rückhalts erfreut – auf dem flachen Land macht er keinen Stich. An ihm, der doch nicht spalten, sondern versöhnen will, scheiden sich die Geister. Die Verlierer der Globalisierung wollen nicht mehr davon, sondern weniger. Die Gewinner skandieren: Vorwärts! Und die Verlierer sind in der Mehrheit, ob sie nun in von Armut und Einwanderung geprägten Vorstädten leben, in von industriellem Niedergang geprägten Regionen oder eben draußen in der Provinz.

Wenn Macron in der Stichwahl 62 bis 64 Prozent winken, dann nicht, weil die Mehrheit der Bevölkerung am Sonntagabend politisch umgedacht hätte. Dann allein deshalb, weil die Mehrheit das Land nicht der fremdenfeindlichen Rechtsnationalistin Marine Le Pen ausliefern will. Wobei mit den ihr prophezeiten 36 bis 38 Prozent mehr als ein Drittel der Bevölkerung hierzu durchaus bereit scheint. Vor 15 Jahren, als Marine Le Pens Vater Jean-Marie in die Stichwahl gelangt war, hatten die Franzosen erschrocken die Reihen geschlossen und dem zuvor mit 20 Prozent abgefertigten Konservativen Jacques Chirac mit 82 Prozent einen Erdrutschsieg beschert.

Macron müsste um Regierungsmehrheit fürchten

Zu befürchten steht damit, dass es En Marche! bei den Parlamentswahlen im Juni nicht auf die zum Regieren notwendige Mehrheit bringt. Womit ein Präsident Macron ähnlich hilflos dastünde wie sein glückloser Vorgänger Hollande, der, von Parteirebellen herausgefordert, hin- und herlavieren, bis selbst Wohlgesinnteste keinen klaren Kurs mehr erkennen konnten. Womöglich sind aber die Franzosen pragmatisch genug, dem Präsidenten die Mittel zum Regieren nachzureichen. Die Möglichkeit dazu hätten sie. En Marche! will in jedem Wahlkreis einen Kandidaten aufbieten.

Konkurrenz in beklagenswertem Zustand

Zustatten kommt dem Newcomer dazuhin, dass sich die politische Konkurrenz in einem beklagenswerten Zustand befindet. Frankreichs politische Landschaft ist ein Trümmerfeld. Sozialisten und Konservative, die einander seit Jahrzehnten an der Macht ablösen, sind in der Stichwahl zum Zuschauen verurteilt. Die Sozialisten zahlen die Zeche dafür, dass sie kein klares politisches Angebot zustande bringen, weiterhin Sozialisten sein wollen, aber notgedrungen sozialdemokratische Realpolitik machen. Die Konservativen wurden dafür abgestraft, dass sie an François Fillon festgehalten haben, der nicht wahrhaben wollte, dass ihn schon der Verdacht, er habe Frau und Kinder auf Kosten des Steuerzahlers bereichert, für das höchste Staatsamt disqualifiziert hat.

Noch ist Macron freilich nicht Präsident, sondern nur Favorit der Meinungsforscher. Das muss, wie der Brexit oder die Wahl Trumps gezeigt haben, nicht viel bedeuten. Für den Beistand, den Konservative, Sozialisten und Grüne Macron vor der Stichwahl zugesichert haben, gilt das Gleiche. Als die Franzosen 2005 zur Volksabstimmung über die EU-Verfassung aufgerufen waren, hatten die großen Parteien zu einem massiven Ja aufgerufen. Laut Umfragen schien es beschlossene Sache. Das Volk aber sagte Nein.