Die Franzosen jagen die etablierten Politiker vom Hof. Sie wählen den Wechsel, so oder so. Doch obwohl sich der Pro-Europäer Macron für die Stichwahl qualifiziert hat, ist es zu früh zum Durchatmen, findet StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Wer wissen will, wie es um Frankreich im Jahr 2017 steht, für den bringt der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahl erschreckende Erkenntnisse. Mehr als 40 Prozent aller Wähler neigen Kandidaten zu, die explizit krude, gefährliche, extremistische, antideutsche und antieuropäische Positionen vertreten. Vertreter der Parteien, die die Fünfte Republik in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben, wurden vom Hof gejagt und kommen zusammen gerade noch auf ein Viertel der Stimmen. Der erfolgreichste Repräsentant der Etablierten ist – wie passend – in eine Affäre um persönliche Bereicherung verwickelt, und selbst der Hoffnungsträger, der jugendliche Reformer, sieht das politische System, so wie wir es kennen, „am Ende“.

 

Willkommen in Frankreich, einem nach den Ergebnissen des ersten Wahlgangs viergeteilten, desorientierten Land, das verzweifelt die politische Mitte sucht, aber in Massen populistischen Bauernfängern mit Scheinlösungen nachläuft. Wie brachte es ein Kommentator der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ auf den Punkt: „Das Land zögert, das Land kocht. Es begeistert sich, ohne Feuer und Flamme zu sein; es rückt nach rechts und träumt von Revolution; es gräbt die Pflastersteine aus, ohne zu wissen, worauf es sie werfen soll.“

Macron gegen Le Pen – zwei gegen das Establishment

Dass so viele Wähler aus der EU, dem Euro und der Nato aussteigen wollen, die 30-Stunden-Woche einführen und Ausländer herauswerfen wollen, zeigt, wie weit dem Land der politische Kompass abhandengekommen ist. Es zeigt auch das Totalversagen der etablierten Parteien und Eliten, das Land rechtzeitig zu reformieren. Der jetzt bevorstehende Wechsel wird umso schwerer durchzusetzen.

Angesichts der Alternativen erfüllt es einen mit Erleichterung, dass in der Stichwahl, die in zwei Wochen stattfindet, nach einem turbulenten und von Terroranschlägen überschatteten Wahlkampf der Front-National-Chefin Marine Le Pen nun Emmanuel Macron gegenübersteht – zwei Politiker, die sich auf ihre Weise beide gegen das Establishment gestellt haben.

Für Entscheidungen wie am 7. Mai ist der Begriff Schicksalswahl erfunden worden: Sie, die mit allen Wassern gewaschene rechtsextreme Anhängerin eines „Frankreich zuerst“, die in Abschottung und sozialistischem Wirtschaftsprogramm die Lösung sieht; er, der Shootingstar, hoffnungsfroh, aber unerfahren, der seine Bewegung En Marche! erst vor einem Jahr gegründet hat und auf liberale Reformen und die Einbindung Frankreichs in Europa setzt.

Die Franzosen entscheiden auch über den Fortbestand der EU

So stimmen die Franzosen in zwei Wochen nicht nur über den neuen französischen Staatspräsidenten – oder die -präsidentin – ab. Sie entscheiden indirekt auch über den Fortbestand des Euro und der Europäischen Union in ihrer heutigen Form. Einmal abgesehen davon, dass der deutsch-französische Motor mit einer Präsidentin Le Pen abgewürgt würde: Nach dem Brexit würde die Europäische Union einen Frexit wohl kaum überleben.

Dabei sollte man nicht fest davon ausgehen, dass die Entscheidung nun schnurstracks auf Macron hinausläuft – so wie 2002, als Jacques Chirac gegen Jean-Marie Le Pen, den Vater von Marine, 82 Prozent der Stimmen errang, weil das Land in einer republikanischen Allianz gegen den Front National stimmte. Selbst wenn er nach den Wahlempfehlungen vieler seiner Widersachen bessere Chancen hat, muss man vorsichtig bleiben. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an das Brexit-Referendum und die Wahl des US-Präsidenten, nach denen es gegen alle Vorhersagen ein böses Erwachen gab. Und die Gräben zwischen den Lagern sind so tief, dass sich viele Wähler womöglich enthalten werden.

Die Franzosen haben einen Hoffnungsträger im Rennen um das Präsidentenamt gelassen. Mehr ist am Sonntag nicht passiert. Aber auch nicht weniger.