Ein enges Miteinander von Deutschen und Franzosen kann der Motor der politischen Einigung in der EU sein. Doch um unbefangen miteinander umgehen zu können, muss sich Paris endlich kritisch den Schatten seiner Geschichte stellen.

Stuttgart - Frankreich wird in diesem und auch im kommenden Jahr die von der Europäischen Union vorgeschriebene Drei-Prozent-Grenze der staatlichen Neuverschuldung deutlich verfehlen. Der deutschen Regierung gefällt das nicht, doch Jean-Christophe Campadelis, der Führer der französischen Sozialisten, erklärt dazu selbstbewusst: „Die französische Regierung muss Deutschland für eine Debatte über das Drei-Prozent-Ziel nicht um Erlaubnis bitten. Das entspräche nicht dem Niveau von Frankreich.“ Auch wenn die Dinge schlecht laufen, heißt das für die Franzosen noch lange nicht, ihren Stolz preiszugeben.

 

Die Europäische Union ist eine Sache, das deutsch-französische Verhältnis in ihr eine andere: Wenn die Beziehungen zwischen den beiden Ländern hakeln, dann stottert der europäische Motor. Über Jahrzehnte waren Frankreich und Deutschland die Schlüsselspieler in der EU, zeitweise mit Großbritannien als dem Dritten im Bunde. London ist aber über seine Identität ins Grübeln geraten und hat sich aus dem Machtzentrum mehr oder weniger verabschiedet. Umso mehr muss es zwischen Paris und Berlin klappen, wenn Europa vorankommen will.

Viele hängen alten Zeiten nach

Der Dialog ist schon deshalb schwierig, weil sich zu Beginn des europäischen Einigungswerkes zwei unterschiedliche Modelle gegenüberstanden. Die Bundesrepublik fand einen europäischen Bundesstaat attraktiv, in dem es seine komprimierte Nationalität abstreifen zu können glaubte, während es für Frankreich nicht akzeptabel war, Einschränkungen seiner Souveränität hinzunehmen. Das gaullistische Frankreich wollte eine „Union der Vaterländer“, in der es selbst die Führung übernehmen konnte. Für Frankreich war Europa der Hebel, um seinen Einfluss zu vergrößern. Das Bestreben der französischen Politik, das durch die Wiedervereinigung größer gewordene Deutschland in eine gemeinsame Währung einzubinden, entsprang dieser Strategie.

Doch diese Rechnung ging nicht völlig auf. In der Wirtschaftsunion ist Deutschland zu einer Art Hegemonialmacht aufgestiegen, während Frankreich mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpft. Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg glaubt mit einem „patriotischen Protektionismus“ sein Land vor den Folgen der Globalisierung bewahren zu können. Die Sozialisten lehnen ohnehin liberale Lösungen ab, und der rechtsextreme Front National meint gar, Frankreich zu seiner alten Größe zurückführen zu können. Der französische EU-Kommissar Pierre Moscovici, in dessen Wahlkreis unlängst 35 Prozent der Wähler den Front National gewählt haben, sagt dazu: „Viele Franzosen fühlen sich bedroht. Sie fühlen sich als Teil einer großen Nation, die vor dem Abstieg steht. Sie glauben nicht mehr an die Zukunft. Sie hängen Zeiten nach, in denen Frankreich eine Weltmacht war.“

Von den kulturlosen Deutschen wurde Böses befürchtet

Könnte die Tatsache, dass viele Franzosen der Illusion vom alten Glanz anhängen, auch damit zu tun haben, dass das Land seine Geschichte nur einseitig wahrgenommen hat, dass es nur die Erfolge hat gelten lassen? Wenn man diese Frage bejaht, dann tangiert das insbesondere das Verhältnis zu den Deutschen. Bewusst oder unbewusst begegneten oder begegnen immer noch die Franzosen ihren Nachbarn mit einer gewissen Herablassung, waren diese es doch, die ihr Land in drei Kriegen überfallen und verwüstet hatten. Die romantische Seele der Deutschen hatte immer auch ihre rohe Seite, das Barbarische eben.

Christoph Willibald Gluck, dessen 300. Geburtstag wir kürzlich feierten, hat das darniederliegende Opernhaus in Paris mit seinen Reformopern wieder zu hohem Ansehen gebracht, aber die Gralshüter der französischen Operntradition sahen in ihm nur „il barbaro tedesco“, den deutschen Barbaren. Von den kulturlosen Deutschen war Böses zu befürchten, wenn sich diese zusammenschlossen zu einem National- und Machtstaat. Dass dieses Staatsgründung im Schloss von Versailles nach dem Krieg 1870/71 vollzogen wurde, war dabei zweifellos ein billiger Triumph über den „Erbfeind“ und eine Torheit sondergleichen. Das geschah mit Bedacht dort, wo in großen Gemälden die Schlachten Napoleons dargestellt sind. Allerdings nur seine Siege bis 1812, da endet dann die Wand.

Napoleons Glanz und Gloria

Im Bewusstsein der Franzosen spielt Napoleon immer noch eine große Rolle, er ist Teil ihrer „grandeur“. Der schwere Schatten, den der Kaiser einst über Europa warf, wird ausgeblendet. Jetzt hat es der frühere Premierminister Lionel Jospin gewagt, den Napoleon-Mythos anzugreifen. Jospin wendet sich in einem Buch gegen die vorherrschende Meinung, Napoleon sei eine Art Vater Europas. Zu desaströs sei trotz aller strahlenden Siege seine politische Bilanz. Vor allem in Deutschland habe Napoleon die fortschrittlichen Ideen der Revolution auf lange Zeit diskreditiert und antifranzösischen Hass erzeugt. Propaganda auf höchstem Niveau habe seine Machtentfaltung begleitet, sie selbst gleichsam in die künftigen Schulbücher diktiert.

Tatsächlich werden Niederlagen darin weitgehend ausgeblendet. Als der deutsche Journalist Andreas Platthaus unlängst in Begleitung einer französischen Kollegin auf der Autobahn in Richtung Leipzig fuhr und auf die Ausfahrt auf Jena hinwies, begeisterte sich die Französin: „Hier hat Napoleon die Preußen geschlagen!“ Dass der Kaiser hingegen bei Leipzig 1813 von einer Völkergemeinschaft besiegt wurde, wusste sie nicht. Bei Jospin wird diese Niederlage wenigstens erwähnt. Vielen Franzosen ist nicht bewusst, dass Napoleon die Länder des machtlosen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach Belieben als militärisches Aufmarschgebiet benutzte, den Einwohnern rigide Steuern auferlegte und Soldaten für seine Armee aushob. Als Fürst Metternich Napoleon darauf hinwies, sein Russlandfeldzug habe viele Menschenleben gefordert, sagte der Kaiser: „Das waren doch nur Deutsche.“

Auch Frankreich hat seine rohe Seite

Auch die rigiden Ausgriffe des Kardinals Richelieu und dann des Sonnenkönigs Ludwig IV. auf deutsches Gebiet sind in Frankreich kein Thema. Ein französischer Journalist rühmte jüngst in der StZ-Redaktion die Schönheit Heidelbergs, besonders die „romantische“ Schlossruine. Die Frage, ob er wisse, wer das Bauwerk zerstört habe, verneinte er. Tatsächlich hatte der französische König im Pfälzer Erbfolgekrieg befohlen, Heidelberg zu zerstören, dem Gegner dürfe nur verwüstetes Land in die Hände fallen. Alle Orte zwischen Heidelberg und Mannheim wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Einwohner nackt in die Winterkälte hinausgetrieben. Die Heere des Sonnenkönigs wüteten schlimmer als die Revolutionsarmeen, die von 1792 an den deutschen Südwesten überschwemmten. Dass Ludwig XIV. 1681 die Freie Reichsstadt Straßburg überfiel und sie Frankreich einverleibte, trug mit dazu bei, das Wort vom „Erbfeind“ zu begründen.

Es geht hier nicht um Aufrechnung, denn dazu haben die Deutschen wahrlich keinen Anlass. Wohl aber um die Forderung Jospins, mit einem breiteren Geschichtsbewusstsein zu einem aufgeklärten französischen Selbstbild beizutragen. Das könnte zum Beispiel dem Front National den Wind aus den Segeln nehmen und letztlich einem entspannteren deutsch-französischen Dialog dienen. Auch der französische Kulturstaat, so vorbildlich er für Europa war und ist, hat seine rohe Seite.