Wer in den 80ern in Frankreichs Armee nicht parierte, wurde auf die Schwäbische Alb verfrachtet. Eine Begegnung in der Provence.

Münsingen - In Faucon am Mont Ventoux sind die Fensterläden vieler Häuser noch verriegelt, ihre Besitzer kommen nur im Sommer hierher in die Provence. Doch ganz oben im mittelalterlichen Dorfkern, der auf einer Bergkuppe liegt, geht eine Glastür mit Geklingel geschäftig auf und zu. In der Boulangerie Les Tilleul gibt es nicht nur frische Baguettes und Croissants. Der Bäcker Bernard zieht täglich auch ein kräftiges Mittagsgericht aus seinem Ofen.

 

Solange draußen noch nicht bestuhlt ist, finden sich die Stammgäste, meist Handwerker, am einzigen, aber riesigen Tisch mitten in der wohlig warmen Backstube ein. Zu den ersten gehört Robert, der sich, bevor er hereinkommt, den Staub aus den Kleidern klopft und seinem Hund einen Platz zuweist. Es schlägt zwölf, an der gemütlichen Tafel sind noch Plätze frei. „Bernard rettet mich“, sagt Robert, der sich um die leeren Villen kümmert. Im Moment baue er eine Trockenmauer, das mache hungrig. Allemagne? Woher. Stuttgart? Nein, kenne er nicht, Ulm? Auch nicht. Dann sagt er wie beiläufig, er kenne nur Mün-sing-gän.

Geschichten zur Lasagne

Münsingen? Ausgerechnet eine kleine Stadt auf der Alb? Robert lacht sarkastisch – nur allzu gut kenne er das. Beim Militär, 1987, da habe man ihn zur Strafe nach Münsingen geschickt. Zur Strafe? Die Lasagne kommt, ein üppiges Gedicht aus Nudelteig, Tomaten und Creme fraiche. Robert haut rein. Wir können es kaum erwarten, bis er wieder sprechen kann.

Er habe halt nicht gehorcht, sagt er. Zum Beispiel Gewehr putzen. Das habe er doof gefunden, er kam ein paar Tage in das Militärgefängnis in Annecy, wo er stationiert war. Kaum aus dem Knast, fand Robert auch den Stechschritt albern, verweigerte wieder den Befehl und fuhr wieder ein. Dann wurde ihm befohlen, militärische Lieder mitzusingen. Robert blieb stumm. Schließlich hieß es: Ab nach Münsingen!

Mit dem Bus seien er und etwa zwanzig weitere Kameraden auf die Alb gekarrt worden. Es sei im Februar gewesen. In Annecy habe man nachts tun können, was man gewollt habe. Man habe nur morgens um Fünf wieder da sein müssen. Aber Münsingen, „horrible“ – schrecklich! Statt in der gewohnten Stube für fünf Mann habe er sich in einer Baracke mit zig Betten in einem Raum wiedergefunden. Die Waschräume seien nicht beheizt und an die Stube angrenzend gewesen, sondern in einem anderen Gebäude. Das Essen – Robert winkt ab.

Warmes Wasser? – Fehlanzeige

Eines Tages sei man in einen dichten Wald aufgebrochen, wo man campiert habe. Jeden Morgen habe ein Lastwagen etliche 20-Liter-Kanister mit Wasser gebracht, aber an duschen sei bei der klirrenden Kälte nicht zu denken gewesen. Nach zehn Tagen hätten die Soldaten Spezial-Brillen bekommen. Die Furcht, die Augen könnten Schaden nehmen, wenn sie wieder ans Sonnenlicht kämen, sei groß gewesen.

Ein weiterer hungriger Gast kommt zur Tür herrein, er wird als Jean-Pierre vorgestellt. Auch er fragt, woher die Fremden kommen – Allemagne? Jean-Pierre schüttelt den Kopf, er kenne nichts – außer Münsingen. Also hat auch er nicht gehorcht? Jean-Pierre hebt die Schultern, sagt mit unverhohlenem Stolz, Münsingen kenne hier jeder!

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die französische Besatzungsmacht den Truppenübungsplatz übernommen und von 1957 bis 1992 zusammen mit der Bundeswehr genutzt. Bestens erinnert sich Norbert Herrmann, der von 1980 bis zur Schließung 2005 der Bezirksverwalter war. Er habe „gut mit den Franzosen zusammenschaffen“ können, sein Ansprechpartner sei ein ehemaliger Fremdenlegionär gewesen. Mal seien die Franzosen ein paar Wochen da gewesen, dann wieder die Deutschen – eine gleichzeitige Nutzung sei, so Herrmann, wegen der unterschiedlichen Vorschriften nicht machbar gewesen. Zum Beispiel die Feuerwerker – die hätten in Deutschland eine zweijährige Ausbildung hinter sich gehabt, in Frankreich habe ein sechswöchiger Lehrgang gereicht.

Die Bundeswehr – eine Wohlfühlarmee?

Bei den Franzosen sei es rau zugegangen, bestätigt Herrmann: „Für die war die Bundeswehr eine Wohlfühl-Armee“. So hätten die französischen Soldaten auch im Winter frühmorgens in kurzen Hosen zum Training antreten müssen. Für die Deutschen habe es frische Bettwäsche und jeweils zwei Wolldecken gegeben. Die französischen Soldaten hätten sich mit ihren Schlafsäcken begnügen müssen. Und apropos duschen – auf französischer Seite habe es geheißen, „Wir sind hier, um Krieg zu üben, und wo bekommt man im Krieg warmes Wasser?!“

Robert muss zu seiner Mauer. Sein Hund Kiki hat den Knochen, den er von Bernard bekommen hat, abgenagt. Schwanzwedelnd zieht er mit Robert zu einem der verwaisten Gärten. Ein Provenzale im Stechschritt – welch absurde Idee.