Ein neues Abkommen soll Dienstleistungsmärkte in aller Welt öffnen. Die Debatte über Tisa ist ähnlich verfahren wie die über die transatlantische Freihandelszone TTIP. Kritiker befürchten einen Ausverkauf öffentlicher Dienstleistungen – etwa in den Bereichen Gesundheitsvorsorge oder Bildung.

Brüssel - Einst sind die Bauern mit der Pferdekutsche auf den Markt gefahren, um Kartoffeln oder Rüben feilzubieten. Heutzutage, da der Warenaustausch nicht mehr lokal begrenzt, sondern global entgrenzt ist, werden gewaltige Schiffe automatisch mit Containern beladen und übers Meer geschickt. Was wir gemeinhin unter Welthandel verstehen, ist jedoch längst nicht mehr darauf begrenzt. Gehandelt wird auch mit Knowhow, Service und Fachleuten, die in andere Länder reisen, um bestimmte Arbeiten zu erledigen, die nur sie besonders gut können. Um diesen Handel mit Dienstleistungen geht es bei Tisa – dem Trade in Services Agreement.

 

Verhandelt wird es eher unbemerkt im Schatten der beiden transatlantischen EU-Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada in Genf. In dieser Woche fand bereits die zwölfte Gesprächsrunde statt. Vor zwei Jahren begannen die Gespräche, weitgehend abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Mit reichlich Verzögerung, als Kritiker Tisa in einem Atemzug mit den großen Geschwistern TTIP und Ceta nannten, hielt ein wenig Transparenz Einzug. Das Verhandlungsmandat etwa, mit dem die 28 EU- Staaten die Brüsseler Kommission betrauten, wurde erst vor Monatsfrist veröffentlicht.

Am Tisch sind insgesamt 50 Staaten vertreten – neben den EU-Ländern unter anderem Amerikaner, Australier, Chilenen, Israeli, Japaner, Mexikaner, Schweizer und Türken. Es ist ein Club von Staaten, die in der Servicewirtschaft etwas zu bieten haben, 68 Prozent des weltweiten Dienstleistungsmarktes beherrschen und sich von einer weiteren Liberalisierung der Zugangsregeln noch mehr versprechen.

Die EU alleine ist mit einem Weltmarktanteil von 23,5 Prozent der größte Dienstleistungsexporteur überhaupt. Ihre Serviceanbieter könnten im Jahr zusätzlich 21 Milliarden Dollar umsetzen, wie das Peterson Institute for International Economics, eine Denkfabrik in Washington, errechnet hat. Solche Prognosen freilich sind mit Vorsicht zu genießen. Die umgerechnet 19,3 Milliarden Euro entsprächen gerade einmal 0,14 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. In der Krise freilich scheint auch das den Regierungen lukrativ genug, um der EU-Kommission im März 2013 einstimmig ein Mandat zu erteilen.

Kaum Fortschritte auf globaler Ebene

Auf der Weltbühne ist ein Mehr an Freihandel und Liberalisierung nämlich nicht zu bekommen. Schon vor 15 Jahren wurden im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO die Gespräche der sogenannten Doha-Runde gestartet – inklusive eines gesonderten Vertrags über Dienstleistungen, genannt Gats. Doch die Handelsrunde kam 2008 zum Erliegen und konnte seither nicht mehr zum Leben erweckt werden. So gilt immer noch der allererste Gats-Vertrag von 1995, als etwa der digitale Dienstleistungsmarkt via Internet noch in den Kinderschuhen steckte. Der mangelnde Fortschritt auf der multilateralen Ebene ist der Grund, warum nun überall bilaterale Verträge wie das TTIP zwischen EU und USA oder eben das viele Länder umfassende Tisa verhandelt werden. Dass darüber in Genf, dem Sitz der WTO, geredet wird, soll als Signal verstanden werden, dass der weltweite Ansatz nicht aufgegeben wird, sondern Tisa später in ein globales Abkommen integriert werden könnte. Dementsprechend ist es ganz ähnlich aufgebaut.

Konkret geht es um vier Arten, wie Dienstleistungen grenzüberschreitend erbracht werden können: Sie werden erstens schlicht geliefert – etwa über Paketdienste, Kontoüberweisungen, Downloads von Software im Ausland oder Online-Weiterbildungsangebote. Zweitens gehören dazu Angebote im Inland, die Ausländer nutzen. „Wenn ein Familie aus Stuttgart zum Skifahren in die Schweiz fährt“, erklärt Daniel Caspary, CDU-Handelsexperte im Europaparlament, „stellen Hotelbuchung und Kauf des  Skipasses volkswirtschaftlich gesehen Dienstleistungshandel dar.“ Drittens wird geregelt, unter welchen Bedingungen ausländische Unternehmen Niederlassungen eröffnen können, beispielsweise eine Sprachschule oder ein Callcenter. Besonders interessant und traditionell umstritten ist der vierte Punkt: Welche Konditionen gelten für Mitarbeiter, die ein ausländisches Unternehmen zum Arbeiten herschickt? Damit stellen sich unmittelbar so heikle Fragen wie die nach der Visumpflicht, der zuständigen Sozialversicherung, vor allem aber der Lohnhöhe, wenn diese im Herkunftsland viel niedriger liegt.

Die deutsche Wirtschaft hat das größte Interesse, Mitarbeiter unbürokratisch entsenden zu können. Unionsmann Caspary gibt ein weiteres Beispiel: „Verkauft die Firma Trumpf aus Ditzingen eine Maschine nur deshalb nicht, weil sie nicht auch deren Wartung übernehmen kann? Oder darf sie liefern, muss aber mit der Instandhaltung Subunternehmer vor Ort beauftragen? Oder bekommt sie den jahrelangen Folgeauftrag gleich mit, weil ihre Angestellten problemlos auf Zeit dort arbeiten können?“

Letzteres ist nur eins der Ziele, welche die EU-Staaten mit Tisa erreichen wollen. Ausdrücklich gefordert wird im Verhandlungsmandat, ihrer Wunschliste, besserer Marktzugang bei Telekommunikationsdiensten, computerbezogenen Dienstleistungen, elektronischem Geschäftsverkehr, grenzüberschreitenden Datenübermittlungen, Finanzdienstleistungen, Post- und Kurierdiensten sowie dem öffentlichen Beschaffungswesen. Die Regierungen können sich sogar vorstellen, dass das Abkommen – von noch zu definierenden Ausnahmen abgesehen – „grundsätzlich für alle Sektoren und Erbringungsarten gelten könnte“.

Kritik an „hemmungsloser Marktöffnung“

Solche Sätze lassen vielerorts die Alarmglocken läuten. Bei der grünen Europaabgeordneten Ska Keller etwa, die „die Strategie der hemmungslosen Marktöffnung“ kritisiert: „Das öffnet dem Ausverkauf öffentlicher Dienstleistungen Tür und Tor und bedroht Gesundheitsvorsorge wie Bildungssysteme.“ Selbst Viviane Reding, einst EU-Kommissarin, nun Europaabgeordnete der Europäischen Volkspartei und Tisa-Beauftragte des Parlaments, spricht gegenüber der Stuttgarter Zeitung von einem „Blankoscheck für die EU-Kommission“. Bis Herbst will sie im Parlament, das am Ende über Tisa abstimmt, per Resolution festschreiben, was geht und was nicht – und die Daseinsvorsorge schützen: „Öffentliche Dienstleistungen sind in Europas DNA und den EU-Verträgen verankert. Sie stehen nicht zum Verkauf.“ Das dürfte die kommunalen Spitzenverbände sowie den Verband kommunaler Unternehmen (VKU) zumindest etwas beruhigen, die ihre „Organisationsfreiheit“ und die Möglichkeit von „Rekommunalisierungen“ einmal privatisierter Betriebe bedroht sehen.

Alles kein Problem, versichert EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström. Zusammen mit US-Handelsattaché Michael Froman erklärte sie im März, die Abkommen „können Regierungen, egal welcher Ebene, nicht davon abhalten, Dienstleistungen wie Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit und Soziales bereitzustellen oder zu unterstützen“. Außerdem werde es keinen Zwang zur Privatisierung geben – zudem könnten beispielsweise bereits privatisierte Wasserwerke jederzeit wieder von der öffentlichen Hand übernommen werden. „Sie werden“, so Malmström und Froman, „nicht unwiederbringlich Teil des kommerziellen Sektors.“ Die richtige Balance zwischen privaten und öffentlichen Dienstleistungen herzustellen sei „Sache der Regierungen“.

Diese eindeutige politische Positionierung steht jedoch in gewissem Kontrast zu dem, was bisher zu Papier gebracht wurde. Zwar ist im europäischen Verhandlungsmandat unter Verweis auf die EU-Verträge zu lesen, die „hohe Qualität der Versorgungswirtschaft“ solle „aufrechterhalten werden“, im Rohentwurf des Abkommens, den die EU-Kommission selbst geschrieben hat, werden jedoch nur „in Regierungshoheit bereitgestellte Dienstleistungen“ vom Geltungsbereich ausgenommen. „Das stellt nur eine begrenzte Ausnahme dar, die lediglich staatliche Kernbereiche wie die öffentliche Verwaltung, das Rechtswesen oder die Polizei abdeckt“, kritisierte der Rechtswissenschaftler Markus Krajewski von der Uni Erlangen bei einer Anhörung Mitte Februar im Europaparlament: „Sie hat daher nur einen marginalen Effekt darauf, wie sich ein Handelsvertrag auf öffentliche Dienstleistungen auswirkt.“

Angst vor Medizintourismus

Unsicherheit hat auch erzeugt, dass in den Genfer Gesprächen sehr wohl über sensible Bereiche verhandelt wird. So will etwa die türkische Regierung einem öffentlich gewordenen Papier zufolge den „Medizintourismus“ fördern und es „Patienten erleichtern, im Ausland behandelt zu werden“. Wo der Zahnersatz oder das künstliche Hüftgelenk billiger zu haben wäre – auf Kosten der heimischen Krankenversicherung versteht sich. Die EU-Kommission hat flugs versichert, solche Liberalisierungen nicht mitzumachen, selbst wenn andere sie für sich beschließen sollten.

Tatsächlich funktioniert Tisa nach dem Baukastensystem: Jedes Land kann definieren, welche der vereinbarten Marktöffnungen es mitmacht. Das geschieht über Negativlisten. Im Umkehrschluss ist damit aber jede Dienstleistung liberalisiert, die dort nicht explizit aufgeführt oder schlicht vergessen wird. Im Gegensatz dazu gibt es im Gats-Vertrag der Welthandelsorganisation eine Positivliste; liberalisiert wird also nur das, was ausdrücklich benannt wird. Daran halten die Tisa-Kritiker fest – auch weil es „schwierig zu vergleichen“ wäre, so der Jurist Krajewski, in welchen Servicebereichen sich tatsächlich Märkte auftun.

Zur Verunsicherung trägt die pure Fülle potenzieller Themen bei. „Bei Tisa gibt es so viele Einfallstore, dass ich nicht sicher bin, ob alle geschlossen werden können“, meint Ska Keller. Ihre christdemokratische Kollegin Reding hat insgesamt fünf rote Linien markiert. Es soll kein Sozialdumping geben und auch keine Einwanderung durch die Hintertür, weil Visa oder Arbeitserlaubnisse plötzlich automatisch erteilt werden. Eine Aushöhlung europäischer Datenschutzregeln soll verhindert werden, wo doch ein durchgesickerter US-Wunsch lautet, dass kein Land ein Unternehmen daran hindern können soll, Informationen außer Landes zu schaffen – selbst wenn dort nur eine Dienstleistung erbracht wird und keine Niederlassung eröffnet wurde. „Ohne Niederlassung in der EU“, so die Grüne Keller, „würde etwa Google auch nicht mehr dem EU-Datenschutzrecht unterliegen.“ Auch zu Redings letztem Punkt, dass es angesichts einer vorgesehenen „Stillhalteklausel“ keine Einschränkung geben darf, neue Gesetze zu erlassen, nennt Keller ein Beispiel: Die besondere Rechtsstellung der Sparkassen könnte als Handelshemmnis angesehen werden.

Es liegt in der Natur der Sache, dass mitten in Verhandlungen noch nicht alle Bedenken berücksichtigt sind. CDU-Mann Caspary warnt daher vor einer „Panikwelle“ und „künstlich aufgeblasenen Problemen“, man dürfe die „Vorteile“ für die Exportnation Deutschland nicht aus den Augen verlieren: „Wir erleben, dass jene, die gegen Handel und Globalisierung sind, mit Verschwörungstheorien unsere Handelsabkommen zu desavouieren versuchen.“