Bei der dritten Ausgabe der Reihe Freikonzert wird dem Pariser Platz Leben eingehaucht – zumindest für einen Abend. Die monotonen Bassläufe der DJs machen die triste Architektur ein wenig erträglicher.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Auf einmal hält der Prenzlauer Berg am Pariser Platz Einzug. Schöne junge Eltern fläzen mit ihren schönen Kindern auf Decken zwischen Beton und Glas. Ein Dreijähriger sitzt auf den Stufen und übt schon einmal den traurigen Singer-Songwriter-Gesichtsausdruck, in der Hand eine Spielzeuggitarre, die er zum Elektropop bewegt, der aus den Boxen tönt.

 

Wer am Freitagabend Gast der Reihe Freikonzert hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof war, konnte einiges fürs Leben lernen. In den kleinen, entscheidenden Stilfragen: manche Männer können Dutt tragen, manche Frauen sehen auch mit Turnbeutel hinreißend aus. In den großen Zusammenhängen: die Instrumentarisierung des Hipsters kann fragwürdige Stadtplanung retten. Zumindest einen Abend lang.

Pariser Platz wird für einen Abend zum Marienplatz

Lässt man die richtigen Leute ein Konzert im unwirtlichen Bankenviertel organisieren, wird der Pariser Platz auf einmal zum Marienplatz mit anderen Mitteln. Das verwundert im Fall des Freikonzerts vom Freitagabend nicht. Organisiert wird die Reihe von Reiner Bocka und Tobias Reisenhofer. Bocka ist der Kopf hinter dem Marienplatzfest. Das erste Freikonzert fand in der Marienkirche statt, 800 Besucher fanden damals in der Kirche Platz, 2000 hörten vor ihr zu. Bei der zweiten Ausgabe spielten drei Bands auf dem Schillerplatz. Wieso hat sich Veranstalter Bocka für das dritte Freikonzert den Pariser Platz ausgesucht? „Wir wollen immer andere Plätze zum Leben erwecken. Privat war ich noch nie hier, der Ort ist zu steril.“

Wenige Stunden zuvor fühlt sich der Ort tatsächlich noch ganz anders an. Lässt man sich vom Hauptbahnhof kommend nicht von der Firmenzentrale der Landesbank Baden-Württemberg abschrecken, die aussieht wie ein Bumerang, der in die falsche Richtung geworfen wurde und nicht mehr eingefangen werden kann, ist der Weg Richtung Pariser Platz nicht so hart wie befürchtet. Ein wenig kommt es einem vor, als würde man in der Blaupause eines Architekten spazieren. Kurz vor dem Pariser Platz wartet ein überdimensionierter Zen-Garten des Kapitalismus. Zwischen Efeu versteckt das Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke: „Der Sommer war groß, leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren.“

Bisher spielt die Kultur im Bankenviertel keine Rolle

Mit der richtigen Viertelführerin lässt sich der Sommer im Banken-Viertel besser verstehen. Magdalen Hayes ist der perfekte Kompass für diese Ecke von Stuttgart, die Oberbürgermeister Fritz Kuhn als kafkaesk verspottet hat. Hayes ist die Geschäftsführerin der Kulturregion Stuttgart, die hier ihr Büro hat. Die zierliche Kulturschaffende wurde einst als Tänzerin an der staatlichen Ballettschule in Berlin ausgebildet, später schloss sie ihr Studium in den USA mit dem Master of Business Administration und Kulturmanagement ab.

Seit sie die Geschäftsführung im vergangenen Jahr übernommen hat, ist die Kulturregion deutlich sichtbarer als früher. Die Kulturregion soll das kulturelle Erscheinungsbild der Region prägen, das Bankenviertel prägt das architektonische Bild des neuen Quartiers hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Wie gelungen findet Hayes diesen Ort? „Es ist immer noch trostlos, wird aber besser. Tagsüber laufen viele Bank-Angestellte hier umher, die Stadtbibliothek zieht Passanten an, der Brunnen ist ein beliebter Treffpunkt.“

Der monotone Bass macht die Architektur erträglich

Das ganze Areal sei eine riesige Stadtentwicklungschance, findet Hayes, bei der die Kultur eine gewichtige Rolle spielen müsse. Wenn nicht gerade die Popkultur auf dem Pariser Platz gastiert – Lauryn Hill spielte 2005 bereits gewohnt schlecht gelaunt an dieser Stelle, Rocksänger Lenny Kravitz gastierte hier im Jahr 2008 bei den Jazz Open – springt einem die Kultur im Bankenviertel bisher nicht gerade aus jeder Ritze ins Gesicht. Die künstlerisch gestalteten Fenster der Sparkassenakademie darf nur besichtigen, wer Mitglied im Sparkassenverband ist – oder sich rechtzeitig angemeldet hat. Da hilft nur die Flucht, Magdalen Hayes muss zum Zug.

Oder man kommt eben später wieder. Vor dem Auftritt von Sea + Air legen die DJs von Pauls Artists auf. Die jungen Familien sind einem jungen Kultur- und Ausgehpublikum gewichen. Beschallt von den monotonen Bassläufen der Stuttgarter DJs wirkt die Architektur nicht mehr ganz so kalt. Die ersten Gäste tanzen vor der Bühne, so viele lachende Gesichter an einem Abend bringt eine Sparkassenakademie nicht in einem Semester hervor. Klarer Punktsieg im Duell Hipster gegen Kafka: Zumindest für einen Abend findet so etwas wie echtes Leben auf dem Pariser Platz statt.