Die französische Revolutionsoper "André Chénier" zeigt bei den Festspielen in Bregenz ein historisches Drama vor klassischer Kulisse.

Bregenz - Drittklässler sind heutzutage nicht so leicht zu überraschen. Als sie aber den fünfzehn Meter hohen Kopf des französischen Revolutionärs André Chénier alias Marat auf der Bregenzer Seebühne erblickten, gab es nur noch einen Ausruf: cool. Buben und Mädchen stupften sich gegenseitig und zeigten mit den Fingern auf Einzelteile der mächtigen Konstruktion, als wollten sie sagen, hast du's auch gesehen, findest du das auch so cool?

 

Ausflug in die Kunst stand auf dem Stundenplan der Grundschüler aus dem kleinen Vorarlberger Ort Lustenau, wenige Kilometer südlich von Bregenz gelegen. Für viele ihrer Schüler, sagt ihre Lehrerin Nadine Metzler, sei es das erste Mal, dass sie die Seebühne beiträten. Anschließend gingen die Kleinen zu einem Workshop ins nahe Kunstmuseum.

Tage vorher war das Bühnenmonstrum über den See gekommen: verschifft auf drei Booten, konstruiert in drei Stahlsegmenten, die nun von einem Kran geleichtert und auf die Bühne gehievt und dort zusammengebaut wurden. "Ja, es gab dabei leichte Schwierigkeiten", sagt Bereichsleiter Bertram Meusburger. Kopf und Hals säßen nicht passgenau. Kleinigkeiten sind dies für den Mann aus dem Bregenzerwald, der bei den Festspielen für den Aufbau des neuen Bühnenbildes für die französische Revolutionsoper zuständig ist. Liefe alles so glatt und reibungslos, man bräuchte die lange Vorlaufzeit bis zur Premiere nicht: in der Regel dreieinhalb Jahre.

Eine Minute lang stirbt der Revolutionär

An diesem klaren, sonnendurchschienenen Vormittag im Frühling, im Rücken der Pfänder als Hausberg von Bregenz, rechts am Horizont Friedrichshafen, von wo oft Zeppeline zu ihrem Rundflug über den Bodensee starten und ausgiebig über der Vorarlberger Hauptstadt verweilen, um das Treiben rund um die Seebühne aus der Vogelperspektive zu bestaunen, links der noch schneebedeckte Alpstein, an diesem Vormittag, kaum dass die Schulkinder aus Lustenau den stets öffentlich zugänglichen Zuschauerraum am Seeufer verlassen haben, bewegt er sich das erste Mal: der Kopf André Chéniers.

Gewaltige Massen sind das: 60 Tonnen, die 16 Meter über den Bühnenboden in die Höhe ragen. Der Kopf kippt langsam nach hinten, eine Minute lang stirbt der Revolutionär, schneller schafft es die Hydraulik nicht, selbst wenn es der Regisseur anders wollte. "In diesem Punkt muss sich die Regie nach der Bühne richten", meint Axel Renner, der Sprecher der Festspiele, "wie in vielen anderen Punkten auch." Die Idee für das Stück wird meist vier bis fünf Jahre vorher geboren, längst ehe dessen Realisator bekannt ist.

Eingewoben ist ein herzzerreißende Liebesgeschichte

"Alles, was wir an Bühnenbild auf der Seebühne zeigen, ist überhöht, ins Gigantische gesteigert, Realismus eins zu eins würde nicht funktionieren", sagt Renner und hat dabei die Ausmaße der im Bodensee auf Pfählen stehenden Bühne im Blick wie die mehr als 7000 Zuschauer auf dem Festland. Der Schriftsteller André Chénier ist die zentrale Gestalt des Revolutionsdramas des Italieners Umberto Giordano, das 1896 uraufgeführt wurde. Der historische Chénier ist zunächst ein glühender Anhänger der Revolution und wird zum erbarmungslos Verfolgten von Robespierres Schergen, der am Ende auf der Guillotine landet. Natürlich eingewoben in den Plot ist eine herzzerreißende Liebesgeschichte.

Für das Bühnenbild und Chéniers Ende griffen die Bregenzer in die Asservatenkammer der Kunstgeschichte und entnahmen daraus das Gemälde vom "Tod des Marat" von Jacques-Louis David 1793. Es zeigt den erstochenen Jakobineranführer in der Badewanne. Letztlich erstochen und nicht erhängt wird in Bregenz schließlich auch Chénier, mit einem zwölf Meter langen Messer. Schon Wochen vor der Premiere ist dieser markante Kopf der Magnet für viele Schaulustiger aus nah und fern.

Zusammenspiel von Kunst, Statik, Handwerk und Technik

Das "Verona des Nordens", wie sich die Seefestspiele in Bregenz gern selbst titulieren, bestechen seit Jahren durch ihr grandioses Bühnenbild. Und dies ist ein gekonntes Zusammenspiel von Kunst, Statik, Handwerk und Technik. Denn die Aufbauten müssen nicht nur Wind und Wetter trotzen, sondern auch aufkommendem Sturm und Wellengang standhalten. Das Bühnenbild der diesjährigen Oper kostet beispielsweise fünf Millionen Euro.

Während an den meisten anderen Spielstätten des Landes bereits das Treiben um die Theaterbühne heftig im Gange ist, beginnen in Bregenz erst die Proben auf der Seebühne. Dann wuseln, die Wiener Symphoniker mit eingerechnet, 400 Menschen vor und hinter den Kulissen herum, und die sieben Regieassistenten halten sich bereit, die Protagonisten von "André Chénier" zu ihrem Auftritt zu führen. Denn es soll nicht noch einmal passieren, dass sich ausgerechnet der Hauptdarsteller auf dem Weg von der Maske zur Bühne, wie vor ein paar Jahren geschehen, verirrt.

Übrigens: "Ausverkauft" gibt's nicht. "An der Abendkasse sind immer Karten zu haben", sagt Axel Renner.

Im Internet unter: www.bregenzerfestspiele.com

Wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region

Geschichte: Die Festspiele am See sind ein Eckpfeiler der Kultur in Vorarlberg. Sie wurden 1946 von der französischen Besatzungsmacht und dem Bregenzer Bürgermeister gegründet. Intendant ist der Brite David Pountney, dem 2015 Roland Geyer nachfolgt.

Jobs: Die Festspiele sind mit 1400 Arbeitsplätzen in der Saison der größte Arbeitgeber der 28.000 Einwohner großen Stadt, in die sommers zigtausende Theaterfreunde fahren. Die meisten kommen aus Deutschland. Das Jahresbudget beträgt 20 Millionen Euro.

Profit: Die Oper auf dem Wasser als eine von mehreren Aktivitäten schreibt schwarze Zahlen. Die Subventionen liegen bei 5,7 Millionen Euro, dazu 1,3 Millionen Euro Sponsorengelder. Der Mehrumsatz bringt der Region rund 170 Millionen Euro Einnahmen.