Zehn Jahre hat der 36-jährige Ulvi K. in der forensischen Psychiatrie verbracht. Der geistig Behinderte wird im Fall Peggy vom Landgericht Bayreuth rehabilitiert. Die Beweise reichen nicht.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Bayreuth - Auf dem Weg hinaus aus dem Bayreuther Landgericht geht Ulvi K. über einen roten Teppich, und wieder gibt es Applaus von seinen Unterstützern. Drinnen hat der Vorsitzende Richter Michael Eckstein den Beifall unterbunden, der aufkommt, als klar ist, dass K. im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wird, elf Jahre nachdem das Landgericht Hof ihn wegen Mordes an der Grundschülerin Peggy Knobloch zu lebenslanger Haft verurteilt hat. Im Gericht wird nicht geklatscht. Damals, in Hof, war Ulvi K. ein 25-jähriger, untersetzter, jungenhaft wirkender Typ in Sweat-Shirt und Jeans. Heute ist er ein 36-jähriger, schwerer Mann in einem hellen Anzug und mit passender Krawatte, aber immer noch jungenhaft. Das Lächeln von damals und das Lächeln von heute sind so anders nicht. Ulvi K., Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, hatte mit drei Jahren eine schwere Hirnhautentzündung und hat einen Intelligenzquotienten zwischen 60 und 70, das ist, medizinisch gesehen, eine leichte Behinderung. Im geistigen Entwicklungsstadium ist er auf dem Niveau eines Neunjährigen stehen geblieben.

 

Es ist ein Moment, in dem man zwangsläufig noch einmal alles durchzurechnen anfängt. Peggy Knobloch war 9 Jahre alt, als sie im Anfang Mai 2001 im oberfränkischen Lichtenberg verschwand. Sie wäre jetzt 22 Jahre alt, wenn sie noch lebte. Aber lebt sie noch, oder ist sie längst tot? Und wenn sie tot ist, wann (und wie, vom Warum nicht zu reden) ist sie dann gestorben? Es sind Fragen, die der Prozess in Bayreuth nur teilweise beantworten sollte und teilweise gar nicht beantworten konnte. Womöglich klärt sich nie, was wirklich geschehen ist zwischen dem 3. Mai 2001, als Ulvi K., wie er ein Jahr später bei seinem ersten, später modifizierten, dann widerrufenen Geständnis gesagt hat, Peggy angeblich vergewaltigte und vier Tage später tötete, und jenem 7. Mai 2001, als Peggy Knobloch spurlos verschwand.

Kein einziger Sachbeweis für die Schuld von Ulvi K.

„Im Zweifel für den Angeklagten“, hatte die Staatsanwältin Sandra Staade in seltener Übereinstimmung mit der Verteidigung am Tag vor der Urteilsverkündigung in ihrem Plädoyer betont, möge das Gericht entscheiden, und wiederholte noch einmal, was in diesem Wiederaufnahmeverfahren alles gefehlt habe, um zu einem anderen Urteil als einem Freispruch zu kommen: „Wir haben keinen Tatzeugen, keine Spuren, keinen Tatort und keine Leiche“, sagte Stade. So sieht es in der Urteilsbegründung auch der Vorsitzende Richter: Es gebe, so Richter Eckstein, „keinen einzigen Sachbeweis, dass Ulvi K. die Tat begangen“ habe. „Kein Blut, keine DNA- oder Faserspuren“. Ein Nachweis sei nicht zu führen. Warum hatte das Landgericht Hof 2004 dem Geständnis so großen Wert beigemessen?

K. zählte von vorneherein zu einem Kreis von 13 Verdächtigen einer Mordtat, von der man nicht weiß, ob sie sich überhaupt ereignet hat. Er ist seinerzeit seit September 2001 wegen des sexuellen Missbrauchs („Doktorspiele“) an mehreren männlichen Jugendlichen in der psychiatrischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses Bayreuth untergebracht. Peggys Mutter hatte nach dem Verschwinden ihrer Tochter im Mai einen Verdacht gegen K. geäußert. Den Missbrauch von Peggy Knobloch gibt K. während der ersten Vernehmungen zu. Da die Soko Peggy I aber nicht weiter kommt, wird eine zweite Sonderkommission gebildet. Sie studiert über 200 000 Datensätze neu.

Die Beamten finden keinen Leichnam

In der fünfzehnten Vernehmung von K. im Jahr 2002 erinnert sich dieser angeblich daran, Peggy vier Tage nach dem Missbrauch hinterher gelaufen zu sein, an der Treppe, die in Lichtenberg zum Schlossplatz führt. Peggy sei ausgerutscht, habe geschrien, und er habe Angst gehabt, die Schreie könnten gehört werden. Dann habe er ihr Mund und Nase zugehalten, bis es still wurde. Erst nach diesen Auskünften wird 2002 K.s damaliger Anwalt informiert; unterdessen zeigt K. den Beamten einen Ort, wo er Peggys Leichnam, angeblich unterstützt von zwei Helfern, abgelegt haben will. Die Beamten finden keinen Leichnam, und die Helfer waren zum angegebenen Zeitpunkt tatsächlich ganz woanders. Später widerruft Ulvi K. alles, was er gesagt hat, bis auf die Missbrauchsvorwürfe. Diese Taten gibt er weiterhin zu.

Der Gutachter ändert seine Einschätzung im neuen Prozess

Im Hofer Prozess von 2004 bewertet der psychiatrische Gutachter Hans-Ludwig Kröber aus Berlin das Geständnis von K. als glaubhaft. Vereinfachend gesagt hält er nicht für möglich, dass sich ein Mann auf der geistigen Ebene von K. solche Details, wie er sie angeblich erinnert, auszudenken vermag. Im zweiten Prozess in Bayreuth kommt Kröber, was unter Gutachtern selten der Fall ist, zu einer anderen Einschätzung: nach wie vor ist er überzeugt, dass K. am ehesten widergegeben hat, was er zuvor getan hatte. Allerdings sei es auch möglich, dass der Angeklagte Szenen, die ihm vorgegeben wurden, „importiert“ habe. Wegen einer dieser Szenen ist es unter anderem überhaupt erst zur Wiederaufnahme des Verfahrens gekommen.

Vier Wochen vor dem Geständnis Ende Mai 2002 arbeitete die Polizei mit einer so genannten Tathergangshypothese, die in Hof vor Gericht fälschlicherweise nicht zur Sprache kommt. Die Hypothese erwägt, dass Peggy gewürgt wurde und geschrien habe. Das Gedankenspiel könnte unter Umständen K. inspiriert haben, der zur „Konfabulation“ neigt, wie das die Psychopathologie nennt: im Augenblick des Erzählens glaubt der Befragte seine Geschichte, die in einer anderen Version wenig später völlig anders ausschauen kann.

Das Bayreuther Gericht jedenfalls ist mehr an den Ungereimtheiten aller Details interessiert als an den relativen Gereimtheiten des Hofer Prozesses, und hört viele Zeugen, von denen immer noch manche Peggy nach der Tat gesehen haben wollen.

Insgesamt ist viel passiert seit 2004. Im Jahr 2007 wurden Grabungen auf dem Wohnareal eines anderen Tatverdächtigen durchgeführt, 2013 noch einmal: doch die gefundenen Knochen stammten nicht von Peggy. Mehrere andere Sexualstraftäter sind ins Visier der wieder aufgenommenen Ermittlungen geraten. Es solidarisierten sich unterdessen aber auch große Teile des Dorfes Lichtenberg mit dem verurteilten Ulvi K. und gründeten eine Bürgerinitiative, zu der sogar die Großeltern von Peggy gehörten. Zudem lässt K.s Anwalt, Michael Euler, nie nach. Sein Wiederaufnahmeantrag zählt schließlich über 1000 Seiten Material.

Ein Film vom Dominik Graf lehnt sich an den Fall an

Weiterhin dreht Dominik Graf 2011 einen sofort ausgezeichneten Film, der sich inhaltlich unverkennbar an den Fall Peggy anlehnt: „Das unsichtbare Mädchen“. Hier wird ein fiktiv Sina genanntes, achtjähriges Mädchen hinter die tschechische Grenze in ein Bordell verbracht und später getötet. Szenarien dieser Art kursieren – meistens in der Absicht, Peggys Mutter zu schmähen – immer wieder im Internet. Die Abgründe des Films „Das unsichtbare Mädchen“, zu dem Friedrich Ani das brisante Drehbuch schrieb, reichen im Übrigen bis hinunter in die als sehr sumpfig porträtierten Gegenden bayerischer Machtpolitik, und nicht wenige Menschen im Freistaat waren nach den Vorkommnissen um Gustl Mollath schon geneigt, Solches oder Ähnliches als reale Münze zu nehmen.

Vor dem Hintergrund einer sich in diesem Fall diskreditierenden bayerischen Justiz kommt schließlich dem Bayreuther Verfahren eine eminente Bedeutung zu, und Gustl Mollath lässt es sich nicht nehmen, kurz vor Beginn seine Solidarität mit Ulvi K. zum Ausdruck zu bringen. Trotz der Menge an neuen Anträgen wird die Beweisaufnahme dennoch vorzeitig abgebrochen: der Richter findet keinen Beleg dafür, dass das Geständnis von 2002 nicht zusammenfantasiert gewesen ist, und ohne Spuren, Zeugen und Sachbeweise bleibt einem Gericht nichts anderes als ein Freispruch übrig in einem solchen Verfahren.

Ob er, wie K.s Anwalt Meyer meint, „erster Klasse“ ist, tut nichts zur Sache. Freispruch ist Freispruch. Aber natürlich ist der Fall Peggy Knobloch damit nicht abgeschlossen. Die bayerische Justiz wird den Fall mit neuen Mitarbeitern neu aufrollen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass der gerade frei gesprochene Ulvi K. in diesen Recherchen noch einmal eine Rolle spielt.

Vorerst wird K., der seit zehn Jahren in der Forensischen Psychiatrie sitzt, von einem Psychiater neu begutachtet und womöglich in einer betreuten Wohngruppe untergebracht. Weiterhin werden die Eltern von Peggy Knobloch damit leben müssen, dass sie nicht wissen, was mit ihrem Kind geschehen ist. Auf Fotos abgedruckt wurde zuletzt öfter ein Bild von einem Grabstein für Peggy Knobloch, den es gibt, obwohl kein Grab existiert. Das Mädchen guckt einen da aus einem eingemeißelten Porträtfoto heraus mit blauen Augen an. Man registriert das Bild, wenn man es sieht. Richtig hinzuschauen vermag man aber fast nicht.