Arzneimittel, Süßstoffe, Pestizide: Immer mehr Stoffe belasten Flüsse und Trinkwasser. Die Folgen davon sind bisher kaum untersucht worden. Helmut G. Hohnecker von der Stuttgarter Hochschule für Technik schätzt die Situation als kritisch ein.

Stuttgart - Schon seit vielen Jahrzehnten gelangen riskante organische Spurenstoffe über den Boden, vor allem aber über die menschlichen Ausscheidungen in das Abwasser, von dort in die Flüsse und teilweise auch in das Trinkwasser – doch erst seit einigen Jahren beschäftigen sich Wissenschaft und Wasserwirtschaft näher mit diesen Stoffen. Arzneimittel, Röntgenkontrastmittel, Hormone, Süßstoffe, Weichmacher und Pestizide – was richten diese Substanzen, auch wenn sie nur in geringen Mengen nachweisbar sind, bei den Tieren in den Gewässern und beim Menschen an? Darüber haben am Mittwoch im Rathaus auf Einladung der Grünen-Gemeinderatsfraktion Experten diskutiert.

 

Am deutlichsten ist Helmut G. Hohnecker geworden. Der Leiter des Instituts für Gewässerschutz an der Stuttgarter Hochschule für Technik hielt, als die Veranstaltung fast schon zu Ende schien, eine regelrechte Brandrede. „Wir tun so, als hätten wir alles im Griff“, sagte er: „Doch in Wirklichkeit stehen wir mit dem Rücken zur Wand.“ Vor allem für die Tiere hätten die organischen Spurenstoffe verheerende Auswirkungen: Er untersuche seit 30 Jahren die Wassergüte – wo er in den 1980er Jahren noch 25 Tierarten festgestellt habe, seien es heute noch fünf oder sechs. In der Schussen, die in den Bodensee fließe, von wo unser Trinkwasser komme, seien „gewaltige Störungen“ bei Fischen und Kröten nachgewiesen worden.

Für die 3000 Spurenstoffe gibt es meist keine Grenzwerte

Bei Versuchen in Stuttgart habe man festgestellt, dass Forellen, die in Neckarwasser gehalten würden, bereits nach vier Wochen Symptome der Verweiblichung aufwiesen. Ursache könnten Hormone im Wasser sein; diese stammen auch von den Rückständen der „Pille“. „Das Artensterben im Neckar ist längst ein Fakt“, sagte Helmut G. Hohnecker.

Tatsächlich gibt es aber bis jetzt kaum gesicherte Erkenntnisse, zumindest was die Auswirkungen für den Menschen anbetrifft. Für die allermeisten der mehr als 3000 Spurenstoffe existieren noch keine Grenzwerte. Frieder Haakh, der technische Geschäftsführer der Landeswasserversorgung, forderte deshalb, dass zunächst die gefährlichsten Stoffe identifiziert werden müssten. Dies sei Aufgabe des Umweltbundesamtes. Dann müsse es eine ganze Kette von Maßnahmen geben: Am Anfang stehe, dass diese Stoffe erst gar nicht in den Boden oder ins Wasser gelangten; am Ende müsse das Wasser auch gereinigt werden.

Nachweis erfolgt meist im Nanogramm-Bereich

Beim Trinkwasser wird das bereits getan. Landes- und Bodenseewasserversorgung behandeln das Wasser aus Donau und Bodensee mit Aktivkohle und mit Ozon, wodurch viele Stoffe ausgeschieden werden. Vor dieser Reinigung seien bei Proben im Wasserwerk in Langenau 275 Spurenstoffe ermittelt worden. Nach der Behandlung blieben zum Beispiel beim Wasser aus dem Bodensee zwei Röntgenkontrastmittel, das Antidiabetikum Metformin und der chemische Stoff PFOS, der früher in Kleidern oder Teppichen verwendet worden ist, nachweisbar.

Frieder Haakh warnte aber vor Panik: Es handle sich um Mengen im einstelligen Nanogramm-Bereich – das entspreche einem Regentropfen in einem großen Sportschwimmbecken. Wenn jemand ein Medikament einnehme, dann sei die Tagesdosis oft eine Million Mal höher als die ermittelte Menge eines Spurenstoffs.

Erst zehn Klärwerke im Land haben neue Reinigungsstufe

Ein wichtiger Baustein im Kampf gegen die Spurenstoffe ist eine weitere Reinigungsstufe in den Kläranlagen, die in der Regel ebenfalls mit Aktivkohle arbeitet. Bislang gibt es eine solche Stufe aber erst in zehn Klärwerken in Baden-Württemberg – das Klärwerk Stuttgart-Mühlhausen plant bereits eine solche Stufe, wird aber frühestens 2022 in die Bauphase gehen. Helmut G. Hohnecker betonte aber, dass man diese Stufe nicht als Allheilmittel ansehen dürfe: Bei Regenfällen gelangten heute noch bis zu 50 Prozent des Abwassers direkt in die Flüsse.

Ein wichtiges Thema bei der von Grünen-Stadträtin Gabriele Munk moderierten Diskussion war der richtige Umgang mit Arzneimitteln – abgelaufene oder nicht mehr benötigte Medikamente dürften keinesfalls über das Waschbecken oder die Toilette entsorgt werden, sondern gehörten in den Restmüll. Ewald Hommel, der stellvertretende Vorsitzende der Ärzteschaft Stuttgart, forderte seine Kollegen auf, weniger Arzneien zu verschreiben: „Denn 80 Prozent der Medikamente sind überflüssig und teilweise schädlich.“

Die Studie

Studie:
Ein Jahr lang hat das Umweltministerium 17 Flüsse und sechs Kläranlagen im Land auf 86 Spurenstoffe hin untersuchen lassen – die Ergebnisse sind im vergangenen Herbst vorgestellt worden.

Flüsse
: Spurenstoffe sind flächendeckend in den Gewässern verbreitet – im Schnitt sind etwa 50 Prozent der 86 geprüften Stoffe in den Proben gefunden worden. Als besonders belastet gelten danach die Körsch und die Glems. Dies liegt daran, dass deren Wasser zu bis zu 40 Prozent aus geklärtem Abwasser besteht. Vor allem bei kleineren Gewässern sei die Gefahr groß, dass die Fauna geschädigt werden könnte, so heißt es in der Studie.

Klärwerke:
Im Klärwerk Heilbronn fließen jährlich 18 Tonnen an Spurenstoffen in die Anlage hinein und am Ende 6,5 Tonnen wieder heraus.

Die Studie finden Sie hier: http://stzlinx.de/spurenstoffe // Die Studie gibt es unter http://stzlinx.de/spurenstoffe