Rund 235 Flüchtlinge sind aktuell in Vaihingen untergebracht, die meisten davon in einem Wohnheim nahe des Hauses von Martina Tertelmann. Im Interview spricht sie über ihre Erwartungen, kulturelle Unterschiede und die Hilfsbereitschaft der Bürger.

Vaihingen - Glücksmomente, Freundschaft, Frustration, Dankbarkeit – seit vier Jahren engagiert sich Martina Tertelmann im Freundeskreis Flüchtlinge Vaihingen-Rohr. Ihre Arbeit sieht sie noch nicht am Ende.

 

Seit 2013 engagieren Sie sich – teilweise täglich – im Freundeskreis Vaihingen-Rohr. Sind Sie mittlerweile erschöpft?
Ja, zwischendurch kam eine Erschöpfungsphase. Ich habe vier Kinder, bin berufstätig. Das mit dem Ehrenamt unter einen Hut zu bekommen, war nicht leicht. Vor allem, wenn man so nah an der Unterkunft wohnt und sich viele Gespräche mit Flüchtlingen auch spontan auf der Straße ergeben. Da musste ich lernen, mich abzugrenzen.
Warum haben Sie den Freundeskreis begonnen?
Wer so nah an einer Unterkunft wohnt, kann entweder die Schotten dicht machen, sich gleichgültig verhalten oder eben aktiv mitgestalten. Meine Kinder haben mir stark geholfen. Sie waren neugierig auf die neuen Nachbarn.
Der Freundeskreis hat ungefähr 110 Mitglieder, 40 davon sind aktiv. Wo werden aktuell die meisten Ehrenamtlichen gebraucht?
Ganz klar in der persönlichen Betreuung, in Patenschaften, schlicht im ganz normalen Alltag. Vor allem bei Behördengängen werden Flüchtlinge oft allein gelassen. Aktuell sind auch die Themen Wohnungs- und Arbeitssuche auf der Agenda.
Das Thema Flüchtlinge ist in den Medien nicht mehr so präsent wie noch 2015. Hat sich das auf die Hilfsbereitschaft in Vaihingen ausgewirkt?
Am Anfang bin ich ständig angesprochen worden; viele wollten Sachspenden abgeben. Dieser große Andrang zur Hilfsbereitschaft ist verschwunden. Doch die, die von Anfang an entschlossen dabei waren, sind es auch heute noch.
Wie hat sich die Arbeit des Flüchtlingskreises über die Jahre hinweg verändert?
Ich persönlich bin insgesamt etwas nüchterner geworden. Am Anfang standen Euphorie, Begeisterung, Hilfsbereitschaft. Ich bekam viel Dankbarkeit zu spüren und lernte andere Kulturen kennen, was schön war. Aber man braucht – und das war ernüchternd für mich – einen wahnsinnig langen Atem für die persönliche Betreuung einzelner.
Wofür brauchen Sie denn konkret einen langen Atem?
Nicht für die Integration an sich, sondern für die Behördengänge. Für einen Deutschen ist es schon schwierig, einen Amtsbrief zu verstehen. Das als Flüchtling zu verstehen, ist schwer. Da gibt es viel zu wenig staatliche Stellen, bei denen Flüchtlinge Hilfe bekommen.
Abseits der Hilfe mit Behörden bietet der Freundeskreis unter anderem Deutschunterricht und Kinderbetreuung an. Wäre das nicht Aufgabe des Staates?
Natürlich, diese Strukturen fehlen. Andererseits ist das Ehrenamt auch wichtig. Und die Stadt bietet mittlerweile viele Sprachkurse an. Doch eine staatliche Kinderbetreuung fehlt, und die Frauen bleiben bei den Kindern, statt wie die Männer in die Kurse zu gehen.
Das zeigt, dass das Geschlechterverständnis ein anderes ist. War es jemals ein Problem, dass Sie als Frau männlichen Flüchtlingen helfen?
Ein klares Nein. Ich habe vier Töchter, die sich engagieren oder mit den Kindern dort spielen. Man darf natürlich nicht blauäugig sein und zum Beispiel mit extrem kurzen Hotpants hingehen. In anderen Kulturen gibt es ein anderes Rollenverständnis. Damit muss man sensibel umgehen.
Wo sehen Sie sonst noch Herausforderungen in der Arbeit mit Flüchtlingen?
Anstrengend ist das Warten auf Antworten. Auch für uns Helfer ist es psychisch belastend, ärgerlich, teilweise unmenschlich, wenn zum Beispiel eine lang erkämpfte Arbeitserlaubnis wieder entzogen wird. Das frustriert. Und mir tut es weh, wie heruntergekommen die Unterkunft teilweise ist. Duschen haben manchmal kein warmes Wasser, Rollläden funktionieren nicht, Toiletten verstopfen. Die Handwerker müssen umständlich und langwierig über das Amt bestellt werden. Und manche Helfer sind enttäuscht, weil Pünktlichkeit oder Verlässlichkeit eine andere Rolle spielen. Ich habe zum Beispiel eine Jogginggruppe für Flüchtlingsfrauen angeboten und meinen Dienstplan darauf eingestellt. Es gab Termine, da war niemand da.
Abseits von Pünktlichkeit und Verlässlichkeit – wo liegen kulturelle Unterschiede?
Das bereits angesprochene Rollenverständnis. Ich sehe es aus dem Küchenfenster, dass Männer vorauslaufen und die Frauen dahinter, nur ein Beispiel. Auch die Kindererziehung ist anders. Wir Deutschen sind ja sehr kontrolliert, wollen wissen, was das eigene Kind wann wo mit wem macht. Das nehmen sie lockerer – da kann man sich eine Scheibe abschneiden, wie von anderem auch.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel von der Gastfreundschaft. Es gibt fast niemanden, der nicht gastfreundlich ist. Das ist extrem ausgeprägt. Auch das Miteinander der Generationen ist ein anderes, ein angenehmeres. Und die Hilfsbereitschaft spielt eine andere Rolle. Wenn ich mit meiner kleinen Tochter von Rohr aus das Fahrrad hochschiebe, helfen Flüchtlingskinder, ihr Fahrrad zu schieben. Das habe ich bei deutschen Kindern nie erlebt.
Wie kann denn Integration langfristig gelingen?
Die Sprache bildet eine Barriere, die die Flüchtlinge mit unserer Hilfe überwinden müssen. Aber es braucht in erster Linie Mitbürger, die sich für die Menschen interessieren. Das sind einfach Menschen, die dieselben Bedürfnisse haben wie jeder Deutsche auch. Sie wollen ihre Kinder auf die Schule schicken, eine Wohnung finden, arbeiten. Wenn einem das bewusst wird, muss man keine großartigen Unternehmungen machen. Es reicht, einfach mal eine Mutter zum Kaffee einzuladen oder ein Flüchtlingskind zum Spielen mit den eigenen Kindern.
Integration fängt ihrer Meinung nach also mit Offenheit im Kleinen an.
Ja, genau. Und man sollte offen sein, den Kontakt auch zu halten, um bei Fragen ein Ansprechpartner zu sein. Das sind Fragen, die Integration schwer machen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ganz konkret: vor Kurzem rief mich eine syrische Freundin an. Ihre Schwester war im Krankenhaus. Sie selbst wurde aus dem Behandlungszimmer geschickt und verstand nicht, warum. Ich rief dort an und die einfache Erklärung war, dass es zu eng und stressig war. Für sie war es zum Verständnis wichtig, zu wissen, dass in Deutschland während der Behandlung nicht immer alle Familienmitglieder mit ins Krankenzimmer hinein dürfen. Das sind Kleinigkeiten, Fragen, über die wir uns keinen Kopf machen, die für die Menschen aber wichtig sind.
Sie nehmen im Punkt Integration die Mitbürger in die Pflicht. Wie erleben Sie in Vaihingen ihre Mitbürger und die Stimmung gegenüber Flüchtlingen?
Grundsätzlich offen. Ich komme mit vielen Menschen in Kontakt, und natürlich schimpft mal jemand über Flüchtlinge, aber selten. Erschreckend ist es für mich eher, wenn das bei Jugendlichen passiert und meine Kinder mit Zitaten aus der Schule kommen im Sinne von: Jetzt reicht es mit den Flüchtlingen. Da haben wir Erwachsenen eine Verantwortung, dass auch Flüchtlingskinder in die Schulen und Vereine integriert werden.
Das Gespräch führte Rebecca Beiter.
Weitere Informationen zum Freundeskreis und den Möglichkeiten, sich zu engagieren, gibt es auf der Webseite https://freundeskreis70565.jimdo.com.