In der Frankfurter Paulskirche ist am Sonntag der Informatiker Jaron Lanier mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Der Amerikaner warnt vor der Verführbarkeit der Massen durch das Internet und spielt bei der Preisverleihung Flöte.

Frankfurt am Main - Dem Internet wird oft vorgeworfen, dass es dem Menschen das stringente, logische Denken abgewöhne. Ein so altmodisches Medium wie ein Buch verlangt von seinem Leser, sich auf eine Argumentation einzulassen, die sich über viele Seiten erstreckt. Vom Autor verlangt es zugleich, seine Gedanken so zu entwickeln, dass man sie über diese Strecke gut nachvollziehen kann. Die digitale Welt hingegen besteht aus lauter kleinen Einheiten, die jede für sich Erregungspotenzial enthalten und die sich immer neu zusammensetzen und vernetzen lassen. Das verändert das Denken. Wer nach einer Veranschaulichung für diese beiden Arten intellektuellen Räsonierens suchte, der konnte sie bei der gestrigen Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche finden.

 

Da ist zum einen der Preisträger: Jaron Lanier mit den richtigen Zuschreibungen einzuführen, fiel dabei Heinrich Riethmüller, dem Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, nicht leicht. Lanier ist Komponist, Künstler, Vortragsreisender, Buchautor und Programmierer. Er hat für Atari Computerspiele programmiert, eine Internetfirma im kalifornischen Silicon Valley aufgebaut und sich schließlich als Kritiker der digitalen Welt einen Namen gemacht. Manche sagen, er sei vom Saulus zum Paulus der digitalen Revolution geworden. Der Vergleich hinkt. Vielmehr hat er sich als Renegat von den nahezu religiösen Erlösungsfantasien der frühen Computerära abgewandt und beschreibt nun – als Insider – die Gefahren und Verführungen durch die digitalen Welten. Er warnt vor der Macht einer kleinen, geldgierigen Elite in den Internetkonzernen, die die digitalen Informationsströme beherrscht und die Massen durch soziale Netzwerke lenkt.

Laniers Vortragsstil veranschaulicht digitales Denken. Der massige Mann, dessen Dreadlocks fast bis zur Hüfte hinabreichen, blickt kaum einmal in sein Publikum, während er über seine schmale Brille blickend in rasendem Tempo aus seinem Manuskript vorliest. Gegen Ende spricht er zwar immer erregter, hebt und die senkt die Arme, aber er blickt immer noch nicht auf. So präsentiert er Bits und Bytes einzelner Gedanken, die sich für seine Zuhörer nur lose zu einem Netz zusammenbinden lassen. Nicht selten überkommt einen als Zuhörer das Gefühl, man könne die einzelnen Teile seiner Rede jederzeit neu arrangieren und zu einem neuen Gesamtwerk werden lassen.

Warnung vor dem „Rudelschalter“

Da ist zum Beispiel die Warnung vor dem „Rudelschalter“, der von den Internetkonzernen über ihre sozialen Netzwerke bei den Nutzern umgelegt werden könne. „Wir gehören zu einer Spezies“, so Lanier, „die als Rudel oder als Individuen auftreten kann.“ Im Internet rotteten sich Menschen hinter einer einzigen Identität zu solchen Rudeln zusammen, zum Beispiel einer Ethnie, Fans eines Musikstils oder eines Sportvereins. Sie verlören so ihre Individualität und grenzten all jene aus, die sich ihnen widersetzen oder eine andere Identität einnehmen. Schwarmidentität sei nicht nur, wie die Freunde der digitalen Welt glaubten, eine positive Eigenschaft. „Die Nazis haben bewiesen, dass eine hochtechnisierte Welt kein Schutz gegen das Rudelverhalten ist.“ Er, Lanier, habe einst gehofft, dass in einer vernetzten Welt des Internets komplexe Loyalitäten entstünden, so dass sich Menschen nicht mehr gegeneinander aufhetzen ließen, weil jeder mit jedem auf einem anderen Feld verbunden sei.

Es ging dann in der Rede des Friedenspreisträgers ohne Punkt und Komma auch noch um Internetkonzerne und die Demokratie – wobei einmal Fundamentalkritik anklang, ein andermal der Begriff der „loyalen Opposition“ fiel –, um den Wert von Büchern, um das Ausspähen von Lesern, die Macht von Algorithmen, das Ende der Hegel’schen Dialektik zugunsten eines Datenstroms, um Laniers in die USA geflüchteten Eltern, deren jüdische Familien Opfer des Holocaust wurden, und um den verstorbenen Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, als „Quelle des Lichts“.

Viele Zuhörer versuchten, die Orientierung in der vernetzten Gedankenwelt des Internetpioniers zu behalten, indem sie die Rede ganz altmodisch auf Papier mitlasen. Ganz anders der Laudator: Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlamentes, konnte sich als Homme de Lettres, als kontinentaler Intellektueller präsentieren, der in einer nicht brillanten, aber immerhin stringenten Rede den amerikanischen Internetkonzernen europäische Werte entgegenhielt – obgleich nicht ganz klar ist, warum eine angemessene Honorierung für Urheber, eine geschützte Privatsphäre, Sicherheit der Daten vor dem Ausspionieren durch Staat und Unternehmen und ein Recht auf Vergessen im Netz genuin europäisch sein sollen.

Unbehagen an der Fremdbestimmung

Im Kern sagte der Lobredner wohl nichts anderes als der Gelobte. Gemein ist beiden ein Unbehagen an einer technologischen Fremdbestimmung. Sie war letztlich überhaupt der Grund dafür, dass Jaron Lanier in diesem Jahr von der Jury mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Die Preisträger der Vergangenheit seit 1950 haben sich als Intellektuelle, als Mahner und Schriftsteller, als Aktivisten und Nachdenkende in der realen Welt eingemischt. Viele wirkten in ihren Heimatländern in Gesellschaft und politischem Diskurs. Lanier ist der erste Preisträger, dessen Heimat das Internet ist.

Martin Schulz machte deutlich, dass es in Zukunft keine Trennung zwischen der digitalen und der analogen Welt mehr geben könne. Dass sich die Gesellschaft hier wie dort fragen müsse, was Humanität bedeute. Und Jaron Lanier bestand darauf, dass wir Computer nicht so behandeln dürften als seien sie genauso viel wert wie Menschen. Der Mensch verfüge über ein Maß an Freiheit, das es ihm erlaube, sich seiner Vorherbestimmung durch Algorithmen zu widersetzen.

Dabei konnten die Zuhörer in der Paulskirche nur hoffen, dass die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine in Zukunft größere Höhen erklimmt als sie das völlig wirre Grußwort des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann darstellte. Es klang so, als habe eine Computer-App Phrasen zum Thema ergoogelt und zusammenhanglos verschraubt.