Höllenfahrten als sprachliche Höhenflüge: Die kanadische Autorin Margaret Atwood erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Für die Rubrik „Ich habe einen Traum“ des „Zeit“-Magazins wurde vor sieben Jahren, anlässlich ihres siebzigsten Geburtstags auch die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood nach ihren Nachtgedanken befragt. Es fanden sich nur Alpträume darunter. Zum Beispiel der: Man kommt in ein Haus, das einem auf beunruhigende Weise bekannt erscheint, ohne dass man angeben könnte, unter welchen Umständen man ihm schon einmal begegnet ist, ob es nicht vielleicht gar das eigene Haus sei. Ganz ähnlich geht es dem Leser, der das Romanreich Atwoods betritt. Was sie beschreibt, so fern es bisweilen zu liegen scheint, funkelt ihn mit böse vertrauten Augen an, und man hat guten Grund, anzunehmen, dass es sich dabei um die Welt handelt, die man selbst bewohnt.

 

Für ihre „Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Strömungen“, ihr untrügliches Gespür für die fatale Nachbarschaft von Normalität und Unmenschlichkeit, erhält die 1939 in Ottawa Geborene in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Nach der Essayistin Carolin Emcke wird damit zur Abwechslung wieder einmal eine Autorin geehrt, die den Kampf für eine bessere Welt auf genuin literarischem Feld führt. Auch wenn sie sich dabei vornehmlich des Mittels bedient, die schlechteste aller möglichen Welten als die zugleich denkbarste auszumalen.

Wie das Böse an die Macht kommt

Atwood wuchs in der Einsamkeit Nordkanadas auf, ihr Vater war Insektenforscher. Stand am Anfang die Erfahrung der Wildnis, so führt sie ihr Schreiben an einen Punkt, wo die Zivilisation am Ende von der Wildnis wieder eingeholt wird. In dem Roman „Oryx und Crake“, der sich mit dem „Jahr der Flut“ und der „Geschichte von Zeb“ zur Endzeit-Trilogie ergänzt, sind die postapokalyptischen Wälder von grünleuchtenden Chimären und Organschweinen bevölkert, die in Genlabors als Ersatzteillager für eine neue ideale Menschenparkspezies zusammengeclont wurden. Überbordend einfallsreich und zugleich illusionslos ging sie schon in ihrem „Report der Magd“ zu Werke, mit dem sie 1985 in Deutschland bekannt wurde: Volker Schlöndorff verfilmte diesen Alptraum einer destruktiven Männerherrschaft, unter dem Titel „ Geschichte der Dienerin“. Atwoods vornehmlich weibliche Heldinnen sahen sich schon nuklearen, ökologischen und sozialen Katastrophen ausgesetzt, bevor die Dystopie zur Gattung der Stunde wurde. Manchen ihrer heutigen Nachfolger hat sie dabei freilich die Kunst voraus, ihre lustvoll erkenntnisfördernden Höllenfahrten als sprachliche Höhenflüge zu gestalten.

Als Essayistin hat sie sich in „Payback“ mit den Voraussetzungen und Folgen der Finanzkrise auseinandergesetzt, die auch in ihren eben auf deutsch erschienen Roman „Das Herz kommt zuletzt“ hineinragen. Der Crash zieht darin über Nacht dem Leben eines Paars den Boden unter den Füßen weg und macht sie empfänglich für ein totalitäres Lebensverbesserungsprojekt.

Atwood engagiert sich gesellschaftlich und politisch, unter anderem im PEN International. Denn das Böse, das sie literarisch fasziniert, duldet keine Mystifikationen. Auf die Frage, wie es an die Macht kommt, antwortet sie in einem Interview einmal: „Es gibt ein Sprichwort über Hexen, sie können nicht in dein Haus, es sei denn, du lädst sie ein. Jeder lädt sie ein. Aber wir haben Entscheidungsspielräume immer wieder Möglichkeiten, so oder so zu wählen.“ Der Friedenspreis ist mit 25 000 Euro dotiert und wird zum Abschluss der Buchmesse am 15. Oktober in der Paulskirche verliehen.