In der Reihe Frischzelle zeigt das Kunstmuseum Stuttgart noch bis Mai kommenden Jahres Wandinstallationen von Shirin Kretschmann.

Stuttgart - Demnächst feiert das Stuttgarter Kunstmuseum zehnten Geburtstag – eigentlich kein Alter, jedenfalls nicht in Kategorien der Archäologie. Trotzdem befand Schirin Kretschmann, dass es langsam an der Zeit sei, eine historische Tiefenforschung im Glaskubus zu beginnen. Allerdings nicht mit Spaten oder Spitzhacke, sondern mit subtileren Instrumenten der Sichtbarmachung. Und auch nicht im Untergrund, sondern an der Wand. In der Nachwuchsreihe Frischzelle hat die Museumsdirektorin Ulrike Groos Kretschmann den Wandkörper zwischen Tief- und Erdgeschoss zur Verfügung gestellt, um dort verborgene Schichten freizulegen – wobei die Künstlerin zunächst wohl weniger mit den zu Tage geförderten Ergebnissen als vielmehr mit der gewählten Technik verblüfft.

 

Dunkles Lederfett hat die 34-Jährige (die mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten nicht verwandt ist) an ausgewählten Stellen der Acht-Meter-Wand aufgetragen, in den Putz einziehen lassen und mit Bürste oder Pinsel wieder teilweise entfernt. Und siehe da: Ausgerechnet dank der schwarzen Schuhschmiere wird die Architektur transparent und beginnt von dem zu erzählen, was eine Wand im musealen White Cube alles ertragen muss. Im graublauen Fettglanz der Rechteckflächen erkennt man diverse teils grob, teils fein zugespachtelte Bohrlöcher, die von früheren Bildhängungen zeugen. Außerdem eine merkwürdige Kurvenlinie – das Relikt einer Wandarbeit von Michel Majerus. Während der Retrospektive des Luxemburgers 2011 befand sich das Bild eines gigantischen Schuhs an exakt dieser Stelle. Ein glücklicher Zufall angesichts der verwendeten Schuhcreme!

Im zweiten Beitrag der Präsentation dagegen suchte die gebürtige Karlsruherin nicht nach den Spuren der anderen, sondern hinterließ selber welche. Dazu bohrte sie ein ausgedehntes Lochraster in die gegenüberliegende Wand. Der bei dieser Prozedur anfallende Bohrstaub wurde sorgfältig aufgefangen und auf monochromem Plakatpapier zu dünnen, linienförmigen Häufchen aufgeschichtet, so dass man sich an die Messerschlitze in den Leinwänden des italienischen Avantgardisten Lucio Fontana erinnert fühlt.

Kommen, sehen und nehmen, was da ist. So könnte man Kretschmanns ortsspezifisches Arbeiten zum Slogan verdichten. Bei ihrem Auftritt in der baden-württembergischen Kunststiftung 2012 etwa hat sie das hauseigene Mobiliar der Stipendiatenvilla für eine Installation herangezogen, gleichzeitig die Jalousie zur Akteurin eines Videofilms gemacht. Bei anderer Gelegenheit schlitzte die Wahlberlinerin Spuren in den Teppichboden, die den Transportweg eines im Raum aufgestellten Klaviers zu rekonstruierten. Anstatt also das Museum zu nutzen, um mitgebrachte Bilder zu zeigen, ist für sie die Institution selbst das Bild.

Grundsätzlich sind solche Selbstumkreisungen im Kunstkontext nichts Ungewöhnliches mehr, aber Schirin Kretschmann weiß, die Reflexion des musealen Umfelds sinnlich aufzupeppen. Früher nutzte sie dazu Sand und schmelzendes Speiseeis, diesmal nun Schuhcreme. Freilich nicht irgendein Produkt, sondern Spezialfett für Reitstiefel. Dank des hohen Anteils an Bienenwachs verströmt das Ganze einen angenehmen Duft. Die Qualität dieser 21. Frischzelle ist auch zu riechen.