Woher rührt die in der SPD verbreitete Allergie gegen eine große Koalition? Dazu hat der Bundespräsident die Chefs der Volksparteien animiert. Die Furcht, als Juniorpartner Merkels würde ihre Verzwergung zwangsläufig fortschreiten, ist nach Asicht von Parteienforschern verfehlt.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Die Schwarze Witwe ist gar nicht so giftig, wie viele glauben. Das gilt zumindest für Spinnen der so benannten Gattung. Ihr Name rührt von einem kannibalischen Verhaltensmuster her, das ihnen nachgesagt wird: Die Weibchen fressen nach der Paarung angeblich die kleineren Männchen auf und werden so zur „Witwe“. Das lässt sich aber schon in der Natur nicht lücklenlos nachweisen. Erst recht nicht in der Politik. Da gilt die CDU-Kanzlerin Angela Merkel als „Schwarze Witwe“, weil sie bisher alle ihre Koalitionspartner kaputtregiert hat: Die Wählerresonanz der SPD schrumpfte seit 2005 nach zwei Koalitionen mit Merkels Union von 34,2 auf 20,5 Prozent, die FDP war nach vier Jahren Regieren mit Merkel nicht mehr parlamentstauglich. Deshalb herrscht bei den Sozialdemokraten eine große Abneigung gegen ein neuerliches Regierungsbündnis unter Merkels Regie.

 

Grokos sind bei den Genossen „unbeliebt wie Fußpilz“

„Die SPD hat keine Pflicht zur Selbstaufopferung“, hat Fraktionsvize Axel Schäfer schon vor Wochen erklärt. „Die große Koalition ist bei uns unbeliebt wie Fußpilz“, pflichtet ihm Ralf Stegner bei, der Linksaußen im Parteivorstand. „Wir Sozialdemokraten sind gebrannte Kinder“, sagt der sächsische Landesvorsitzende Martin Dulig. Und die Genossin Johanne Modder, Fraktionsvorsitzende im niedersächsischen Landtag, hält es für ausgemacht, dass eine dritte Koalition mit der Union, wozu der sozialdemokratische Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an diesem Donnerstag dringend zugeraten hat, der Partei „massiv schaden“ würde.Franz Walter, Politikwissenschaftler in Göttingen, wertet diese Koalitionsallergie als „sozialdemokratischen Selbstbetrug“, wie er in einem Beitrag für das Internetforum des Göttinger Instituts für Demokratieforschung schreibt: „Aus der Geschichte bundesdeutscher großer Koalitionen in Bund und in den Ländern ist ein struktureller Nachteil für die SPD keineswegs herauszulesen, nicht einmal in ihrem Part als Junior.“

Die Verluste der SPD bei Bundestagswahlen hätten weniger mit der „Schwarzen Witwe“ Merkel als vielmehr mit den Schwächen der traditionsreichsten deutschen Partei selbst zu tun. „Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat die erodierende SPD nicht nur im Bündnis mit der CDU verloren“, argumentiert Walter, „sondern in nahezu allen anderen Varianten ebenfalls.“ Sein Fazit lautet: „Auf einen exklusiven Verschleiß des Sozialdemokratischen im Bündnis mit den Christdemokraten weist wenig hin.“

Die SPD verliert in allen Konstellationen

Während der Zeit der Zusammenarbeit mit Merkels Union hat die SPD mehr als 40 Prozent ihrer Wählerstimmen eingebüßt: 2005 verbuchte sie noch 16,2 Millionen Zweitstimmen, zuletzt 9,5 Millionen. Ähnlich dramatisch war der Einbruch als Juniorpartner der sächsischen CDU. Da stürzten die Genossen nach fünf Jahren großkoalitionären Regierens bei der Landtagswahl im vergangenen Herbst von 21,5 auf 10,6 Prozent der Stimmen. In Schleswig-Holstein sackten sie 2009 nach vier Jahren Schwarz-Rot von 38,7 auf 25,4 Prozent ab.

Es gibt aber auch Beispiele, welche die Annahme widerlegen, dass die Zusammenarbeit mit den Christdemokraten auf jeden Fall toxisch sei: In Brandenburg legte die SPD nach einer großen Koalition 2009 zu – und verlor fünf Jahre später in gleichem Ausmaß, nachdem sie gemeinsam mit den Linken regiert hatte. In Mecklenburg-Vorpommern gewann sie 2011 nach einer großen Koalition mit dem Juniorpartner CDU erst fünf Prozentpunkte hinzu, büßte die aber 2016 gleich wieder ein.Seit Beginn des 21. Jahrhunderts waren die Sozialdemokraten in Bund und Ländern an 48 Koalitionen beteiligt. In elf Bundesländern regieren sie aktuell. 37 Koalitionen mit SPD-Partnern mussten sich inzwischen einer Wahl stellen. In 23 Fällen verbuchte die SPD Verluste, 14 Mal Gewinne. Verloren hat sie nicht nur als Juniorpartner, sondern in 16 Fällen auch als führende Partei einer Koalition. Die Verluste lassen sich keineswegs nur der CDU anlasten. Rot-Grün auf Bundesebene hat sich für die SPD bei Wahlen nicht ausgezahlt, Grün-Rot in Baden-Württemberg auch nicht. Bei neun Wahlen zog die SPD nach rot-grünen Koalitionen den Kürzeren.

In den Ländern verkraftet die SPD Grokos besser als die CDU

Der Politologe Martin Gross aus München hat sämtliche große Koalitionen seit Bestehen der Bundesrepublik bis 2009 untersucht. Als Paradebeispiel gegen die sozialdemokratische Paranoia gilt Willy Brandts Aufstieg zum Kanzler 1969, nachdem er drei Jahre als Vizekanzler unter dem CDU-Mann Kurt Georg Kiesinger regiert hatte. „Die politischen Ränder des Parteiensystems profitieren in der Mehrzahl der Fälle von einer schwarz-roten Koalition“, so der Groko-Forscher Gross. Vor allem nach 1990 hätten große Koalitionen „die Fragmentierung des Parteiensystems erhöht“. Die Regierungsparteien hätten bei Wahlen aber meist zugelegt. Auf Landesebene hat er herausgefunden, „dass die SPD deutlich besser aus großen Koalitionen hervorgeht als die CDU“.

Tipp vom Experten: Regierungsbeschlüsse nicht „übellaunig annörgeln“

Gross‘ Kollege Franz Walter zieht folgenden Schluss: „Letztlich kommt es darauf an, Bündnisse beherzt anzugehen, statt sie (und selbst ihre Erfolge) fortwährend übellaunig anzunörgeln.“ Einen Automatismus der Verzwergung durch Merkels Regiment vermag er nicht zu erkennen. Entscheidend für die Frage, wie Parteien von Koalitionen profitieren könnten, sei vielmehr, wie sie deren politischen Raum „durch kraftvoll agierende Begabungen, durch neue Ideen und mobilisierende Projekte besetzen können“. Mit Blick auf die aktuelle Verfassung der SPD kommen Walter offenbar Zweifel: „Existieren solche Begabungen, Ideen, Zielsetzungen und Mentalitäten? Wenn nicht, wird es in der Tat schwierig – allerdings in jeder Koalition, in der Politik überhaupt.“