Bei den Einheimischen kommt keine EM-Stimmung auf, weil sie sich unerwünscht fühlen. Die schillernde Fassade soll nicht bröckeln.

Kiew/Ukraine - Das Megaprojekt ist gerade noch pünktlich fertig geworden. Der am Montag vor einer Woche eröffnete Terminal D am Airport Borispol Kiew fungiert die nächsten Tage als Drehkreuz der Fußballanhänger und dient mit seinen gigantischen Ausmaßen zugleich als schöne Kulisse. Der wegen seines autokratischen Führungsstils in die Kritik geratene Präsident Viktor Janukowitsch konstatierte zur Einweihung überschwänglich: „Mit der Fertigstellung hat die Ukraine einen Sieg errungen.“ Auf 107 000 Quadratmeter sollen pro Jahr 15 Millionen Passagiere abgefertigt werden, die offiziellen Kosten für die vierjährige Bauzeit betrugen 480 Millionen Euro. Sage noch einer, dass dieses Land nichts auf die Beine stellt für König Fußball.

 

In der Hauptstadt haben die Aufbauarbeiten für die große Fanzone begonnen, die Platz für mehr als 70 000 Menschen bieten soll. Der Verkehr wird aus Teilen der Innenstadt verbannt, zahlreiche Nebenstraßen sowie die Metrostation Kretschatik sind nun bis zum 7. Juli gesperrt. Bei vielen Kiewer Bürgern kommt das nicht so gut an. Das eigene Volk wird ohnehin den Eindruck nicht los, bestenfalls aus der Ferne diese EM verfolgen zu sollen.

Vor einem Jahr erfuhren Studenten und Schüler, ihre Quartiere bis zu diesem Mai räumen zu müssen. Einige Studentenunterkünfte sollen dauerhaft zu Hostels umfunktioniert werden. „Das frustriert mich sehr, in unserem Wohnheim wurden die Fenster und die Bäder neu gemacht, ich befürchte, dass ich mir demnächst eine neue Unterkunft suchen muss“, klagt die Soziologiestudentin Anastasia. Auch in den deutschen Spielorten Lwiw und Charkow sind massenhaft Studentenquartiere umgebaut worden, die vom Fanclub der deutschen Nationalmannschaft oder der Uefa nun offiziell als einfache Unterkunft vermittelt werden. Zum Zimmerpreis von 80 bis 150 Euro.

„Unser Kindergarten wird im Juni und Juli geschlossen“

Doch nicht nur die Studenten fühlen sich getäuscht. „Ich habe vor ein paar Wochen aus der Zeitung erfahren, dass unser Kindergarten im Juni und Juli geschlossen wird“, sagt Irina. Während des Turniers werden die Betreuungseinrichtungen für Kinder wegen „Renovierungsarbeiten geschlossen“, wie es heißt. Viele Angestellte der Stadtverwaltung in Kiew, Lwiw, Charkow oder Donezk haben im Juni zusätzliche freie Tage erhalten.

Anatoli, der als Elektriker arbeitet und unweit des Olympiastadions von Kiew in einem Hochhaus lebt, sagt: „Ich habe das Gefühl, man will die Einheimischen aus der Stadt treiben.“ In Internetforen häufen sich wütende Einträge: „Nachdem die Bonzen unser Geld verbraten haben, laden sie nun die Welt zu sich ein, und wir sollen uns auf unsere Datscha trollen und nicht weiter stören“, schrieb einer.

Tatsächlich verlassen zahlreiche Kiewer ihre Stadt, weil sie zum einen mit der Vermietung ihres Apartments einen schönen Nebenverdienst haben, zum anderen wollen sie so vor dem Gedränge flüchten. Kommen jetzt noch viele reiselustige Gäste dazu, droht den chronisch überfüllten Straßen und öffentlichen Verkehrsmitteln der Metropole mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern wohl der Kollaps.

Das Volk soll die Zustände im Land nicht schildern können

Es gibt aber noch einen Grund für die Verbannung der Bevölkerung aus ihrem Refugium. Die Führung möchte die Kontakte zwischen Touristen und Bewohnern auf ein Minimum beschränken; das Volk könnte ja die Zustände im Land schildern. „Uns Ältere erinnert das sehr an Olympia 1980 in Moskau, als die Regierung die Moskauer und Studenten massenhaft aus der Stadt verdrängt hat“, sagt der 53-jährige Valentin, der damals in der sowjetischen Hauptstadt studierte. „Ich bin erschrocken, dass solche Zeiten jetzt wiederkommen.“ Die Generalstaatsanwaltschaft hat bereits die junge Generation gewarnt, sich an Demonstrationen zu beteiligen. Im Internet kursiert der Aufruf als „Chinesische Warnung“, in Anlehnung an das Tiananmen-Massaker, der gewaltsam beendete Studentenprotest 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

„Das ist eine klare Einschüchterung, wir sollen unseren Mund halten und uns wegducken“, sagt Dmitri, der sich in seiner Freizeit für den Erhalt des Altbaubestandes in der Innenstadt einsetzt. Gerade haben er und seine Mitstreiter eine Niederlage gegen den Oligarchen Rinat Achmetow, einstecken müssen. Über Nacht hatte dessen Baufirma mehrere alte Häuser mitten in Kiew abgerissen, um Hotels und Hochhäuser zu bauen. Dmitri will trotzdem nicht aufgeben. Der Grafikdesigner plant, in der Fanzone mit Besuchern aus Westeuropa ins Gespräch zu kommen. „Wir wollen denen anbieten, sich auch mal unser Kiew anzuschauen.“ Um hinter die schöne Kulisse zu blicken.