Zwischen Spanien und Italien entscheidet sich am Sonntag nicht nur die EM – sondern auch eine alte Glaubensfrage, prophezeit StZ-Redakteur Oskar Beck.

Stuttgart - Am Sonntag ist es so weit. Endlich erfahren wir die Antwort auf die ewige Schicksalsfrage, die die Welt in zwei Lager spaltet: Ist es entscheidend oder nebensächlich, ob Fußballer die Nationalhymne singen? Muss man, wenn man Europameister werden will, die Hymne laut singen oder gedämpft – oder gar nicht?

 

Morgen wissen wir es. Im EM-Finale in Kiew prallen die Extreme frontal aufeinander wie zwei Schwergewichtsboxer. In der roten Ecke geht der Torwart und Kapitän Iker Casillas mit seinen Spaniern wieder nach der bewährten Methode ins Spiel, mit der sie schon 2008 Europameister und 2010 Weltmeister wurden. Sobald ihre „Marcha Real“ ertönt, ihr königlicher Marsch, schließen die Titelverteidiger geschlossen die Lippen und hören in stiller, schweigender Andacht zu (auf die näheren Umstände kommen wir noch) – während vis-à-vis in der azurblauen Ecke Gianluigi Buffon, der andere Torwart und Kapitän, mit seinen Italienern bebend drauflos singt und sich auf die nahende Schlacht einstimmt mit einer Leidenschaft, die nur zwei Lösungen kennt: Leben oder Tod.

Gigi Buffon geht voran mit allem, was er in sich hat. Er schließt die Augen, und das Herz läuft ihm derart über, dass die Kamera des Fernsehens mit der Hand an der Hosennaht unweigerlich vor ihm stehen bleibt, wenn er mit breiter Brust und voller Pathos loslegt: „Stringiamci a coorte, siam pronti alla morte. Siam pronti alla morte, l’Italia chiamo!“ Selbst wer kein Wort davon versteht, weiß sofort, was es heißt: „Lasst uns die Reihen schließen. Wir sind bereit zum Tod. Wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!“

So singen diese geborenen italienischen Heldentenöre ihre Gegner bei dieser EM an die Wand. Nur ihr Scharfschütze Mario Balotelli darf seine Lippen versiegelt halten – das sei besser, glauben böse Zungen, weil keiner weiß, was aus diesem Mund an Tönen sonst herauskommen würde. Der Rest des Teams singt die „Inno di Mameli“ dafür jedes Mal, als sei es das letzte Mal. Die Hymne ist benannt nach ihrem Dichter Goffredo Mameli – gefallen als Kriegsheld 1849 im Kampf um Rom.

Die Deutschen singen leiser

Wer an Mamelis Andenken rüttelt, muss sich gut anschnallen. Als in der Vorrunde gegen Spanier und Kroatien ein paar Eintrittszahler bei der Hymne der Italiener pfiffen, legten die sofort Beschwerde bei der Uefa ein – und waren fast wieder so pikiert wie vor Jahren, als Michael Schumacher nach einem Ferrari-Sieg zu Mamelis Melodie einmal in Dirigentenmanier grinsend fuchtelte. Das kam nicht direkt blendend an, und spätestens seit dem Halbfinale von Warschau wird deutscherseits sensibler gedacht. Der ARD-Experte Mehmet Scholl kam sogar fast um vor Neid, als er über die singenden Buffons sagte: „Diese Inbrunst steht für einen leidenschaftlichen Teamgeist.“

Jogi Löws Fasteuropameister und Ex-Favoriten singen anders, leiser oder gar nicht, der eine summt, der andere verstummt. Jedenfalls sind wir Deutschen uns in puncto Hymne ungefähr so einig wie der Franz mit dem Beckenbauer. Der hat als Kapitän mit seinen 74er Weltmeistern vor dem Spiel keinen Ton über die Lippen gebracht – aber mittlerweile plädiert er als letzter deutscher Kaiser vehement für das Mitsingen, hören wir kurz rein: „Wer singt, bohrt wenigstens nicht in der Nase oder kaut Kaugummi.“

Was also jetzt?

So tobt dieser Hymnenstreit, und weltweit schlagen sich die Gelehrten gegenseitig die Köpfe ein. In Paraguay meinte dieser Tage ein Abgeordneter namens Juan Bernardo Ziett, dass man jeden Nationalspieler, der nicht mitsingt, mit zwei Jahren Gefängnis bedrohen müsste – animiert hat ihn dazu der serbische Trainer Sinisa Mihajlovic, der neulich den 20-jährigen Adem Ljajic aus der Nationalelf gefeuert hat. Vor einem Freundschaftsspiel gegen Spanien hatte der kurzerhand das Singen unterdrückt – womöglich nahm er sich ein Beispiel an den Welt- und Europameistern ein paar Meter weiter.

Siegen ohne Singen?

Nur: die Spanier dürfen das. Diesen Unbewegten bleibt gar nichts anderes übrig, als maulfaul und stoisch ihrem spanischen Lied zu lauschen, denn die „Marcha Real“, komponiert anno 1760, ist zwar eine der ältesten Nationalhymnen und hat eine wunderbare Melodie, aber einen schweren Geburtsfehler: keinen Text. Und jeder Versuch, etwas Lyrik hinzuzufügen, endete bisher im Fiasko.

Den Spaniern ist also die Zunge gebunden. Wenn Gigi Buffon morgen wie ein Kriegsheld wieder blutrünstig sein „Nur über meine Leiche“ hinausschreit, muss Iker Casillas seinen Stolz wie gewohnt nach innen tragen und klarkommen ohne Tod und Blut. Siegen, ohne zu singen und ohne zu sterben – geht das auf Dauer gut? Morgen wissen wir es.