Der Dortmunder Physiker Metin Tolan berechnet, wann sich eine Notbremse im Fußball lohnt: wenn die Zeit für ein Gegentor knapp ist.  

Dortmund - Die Idee muss ihm gekommen sein, als Jérôme Boateng im entscheidenden WM-Qualifikationsspiel gegen Russland in der 69. Minute die Notbremse zog. Boateng musste vom Platz, Russland blieb 0:1 im Rückstand, Deutschland flog zur Endrunde nach Südafrika - und Metin Tolan stellt sich eine Frage, wie sie nur einem Menschen kommen kann, der so gerne mit Mathematik hantiert wie andere mit Bällen: unter welchen Umständen lohnt sich die Notbremse?

 

Nimmt man an, so dachte sich der Dortmunder Physiker, dass eine Notbremse ein sicher geglaubtes Tor verhindert, so lohnt sie sich in der 89. Minute klar. Denn in der verbleibenden Spielzeit ist ein Gegentor trotz Roter Karte extrem unwahrscheinlich. Ganz anders, wenn das "professional foul", wie es auf Englisch vornehm heißt, in der ersten Minute stattfände: Der Gegner hätte viel Zeit, seine Überzahl zu nutzen. Zu welchem Zeitpunkt im Spiel kippt die Bewertung zugunsten der Notbremse?

Kann Unfairness mathematisch vernünftig sein?

Metin Tolan begann also Formeln aufzuschreiben und Torstatistiken zu wälzen. Seine Erkenntnisse präsentierte er nun auf der Jahrestagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Dresden. Alles hängt davon ab, wie sehr sich die Torwahrscheinlichkeit durch die Über- und Unterzahl verändert. In Studien über Rote Karten fand Tolan dazu unterschiedliche Hinweise. Je nachdem, welche Wahrscheinlichkeiten er in seine Formeln einsetzte, kippt die Bewertung aber spätestens von der 56. Minute an. Boateng hätte seinen Körpereinsatz also auch mathematisch begründen können - natürlich immer unter der Annahme, dass er wirklich ein Tor verhindert hat.

Ist Unfairness also mathematisch vernünftig? "Vorsicht", warnt Tolan. "Wir reden hier über Durchschnittswerte." Dass derartige Zahlenspiele am Ende keine Tore schießen, weiß der leidenschaftliche Fußballphysiker selbst am besten. Den Berechnungen, die er selbst vor der WM 2010 angestellt hatte, widersetzte sich die DFB-Elf einfach: Sie kam ohne Titel nach Hause.