Flächen, Dreidimensionalität, Bewegung – erstaunlich vieles lässt sich mit der Hilfe von Linien darstellen. Eine Ausstellung in der Galerie Stihl Waiblingen lotet die Möglichkeiten aus.

Waiblingen - Zeichnen ist die Kunst, Striche spazieren zu führen“ – so hat es der Künstler Paul Klee auf den Punkt gebracht. Ein überraschender und abwechslungsreicher Spaziergang zum Thema Zeichnung erwartet nun Besucher der Galerie Stihl in Waiblingen. Dort eröffnet am Freitag die Ausstellung „Die Linie ist Gedanke“. Sie zeigt Arbeiten von zwölf zeitgenössischen Kunstschaffenden, welche alle eines gemeinsam haben: Sie arbeiten mit Linien. Manche der Exponate sind erst vor wenigen Wochen vollendet worden – zum Beispiel die Arbeit von Pia Linz mit dem Titel „Hermannplatz“, die erstmals öffentlich zu sehen ist. Die Künstlerin hat diesen Ort über einen Zeitraum von etlichen Jahren beobachtet und als großformatige Zeichnung protokolliert, wie sich der Platz in Berlin gewandelt hat. Eine Langzeitstudie, die großer Konsequenz bedarf, wie die Galerie-Leiterin Silke Schuck betont.

 

Was ist innen, was ist außen?

Im Falle des Exponats mit dem Titel „Schillerpromenade 32/Hinterhof“ hat sich Linz in ein 1,50 Meter großes, mehreckiges Gehäuse aus Acrylglas gesetzt und an dessen Innenwände das gezeichnet, was sie außerhalb sah. Die Beobachtungen kann der Besucher in der Galerie Stihl von außen betrachten – und sich die Frage stellen: was ist nun innen und was ist außen?

Die Gefahr, die vermeintlich simple Linie zu unterschätzen, ist groß. Doch wer durch die Galerie Stihl geht, wird schnell eines besseren belehrt. „Die Ausstellung zeigt, was alles möglich ist mit einer Linie“, erklärt Silke Schuck: Sie kann farbige Flächen erschaffen, wenn man wie der Stuttgarter Künstler Thomas Müller mit einem Kugelschreiber akribisch einen feinen blauen Strich neben den anderen setzt. Sie kann Räumlichkeit bewirken, wenn sie umkehrt, wie dies bei Karim Noureldin der Fall ist. Oder sie kann das emsige Treiben von Ameisen, den akrobatischen Flug von Schwalben, die sanfte Bewegung von Ästen im Wind zeigen, wie Arbeiten von Karoline Bröckel beweisen. Die Künstlerin übersetzt die Bewegungen, die sie in der Natur beobachtet, in Linien und bannt sie auf Papier.

Linien, mit dem Skalpell geschnitten

Katharina Hinsberg wiederum schneidet mit einem scharfen Skalpell ein bisschen nach Art des Scherenschnitts Linien aus dem Papier und schichtet sie übereinander. So entstehen beispielsweise zarte Gewebe wie beim Kunstwerk „Netz“ . Für das Exponat „Nulla dies sine linea“ – „Kein Tag ohne Linie“ hat Hinsberg mit Tusche eine Linie auf Papier gebannt, ein weißes Blatt darübergelegt und den leicht durchschimmernden Strich durchgepaust – mit einer unvermeidbaren minimalen Abweichung. Das Prozedere hat die Künstlerin insgesamt 934 Mal vollzogen. Die fast tausend Blätter bilden einen Quader, an zwei seiner Seiten wandert die Linie, das Produkt aus 934 Punkten, auf dem Papier.

„Linien ziehen erfordert viel Zeit“, sagt Silke Schuck – obendrein seien Durchhaltevermögen und Konsequenz vonnöten. Bei der US-Amerikanerin Linda Karshan kommt noch der sportliche Aspekt hinzu: Ein kurzer Videoclip in der Ausstellung zeigt, dass sie ihren Stift als Verlängerung der eigenen Körperachse nutzt, wobei schnurgerade Linien entstehen.

Die Linie wird durchdekliniert

Über die Waiblingerin Hildegard Esslinger sagt Silke Schuck: „Sie dekliniert alle Möglichkeiten der Linie durch." Etwa, in dem sie sie regelrecht in einen mit Kreide grundierten Karton hineinschiebe. Ganz genau hinschauen muss man bei Niko Grindlers Fadenzeichnungen: Die Künstlerin zeichnet mit der Nadel und unterschiedlich dickem Garn, das sie beispielsweise durch Büttenkarton zieht.

Nadine Fecht wiederum hat für ihr Werk „Jedes Kollektiv braucht eine Richtung“ mit einer speziellen Vorrichtung insgesamt 1805 Kugelschreiber gleichzeitig in Bewegung gebracht. Ihr ebenfalls ausgestelltes Werk „Noise“ ist mit 3,55 auf 4,50 Meter das größte in der Ausstellung. „So etwas kann nur auf dem Boden entstehen“, erklärt Silke Schuck die Arbeitsweise: „Wir haben sechs Leute gebraucht, um es an die Wand zu bringen.“

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Eröffnung
„Die Linie ist Gedanke“ eröffnet am Freitag, 2. Juni, 19 Uhr, in der Kunstschule Unteres Remstal, Weingärtner Vorstadt 14. Die Ausstellung ist bis 27. August zu sehen und zeigt knapp 100 zum Teil großformatige Zeichnungen und drei Filme, die drei der Künstler bei ihrer Arbeit zeigen.

Vermittlung
Die Kunstschule Unteres Remstal bietet zahlreiche Workshops flankierend zur Ausstellung an, in denen Kinder und Jugendliche auch experimentelle Techniken wie Blindzeichnen oder das Zeichnen mit Nadel, Faden und Papier ausprobieren können. Am Mittwoch, 21. Juni, haben Lehrkräfte von 18 Uhr an die Möglichkeit, sich bei einem kostenlosen Infoabend Anregungen zu holen.