Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie sind Gaskraftwerke die ideale Ergänzung zu Wind und Sonne. Sie sind modern, effizient und klimaschonend, aber rechnen sich nicht. Deshalb stehen sie meist still, wie das RDK4 in Karlsruhe.

Karlsruhe - Das Telefon sieht wie alle wichtigen Telefone dieser Welt unspektakulär aus: es ist ein schwarzer Siemens-Apparat nicht ganz neuer Bauart mit wenigen Tasten und großem Display – ein Telefon, wie es sie in den neunziger Jahren zuhauf gab. Aber es hat eine besondere Bedeutung, wenn der Apparat klingelt. Denn nur die Einsatzleitung hat die Nummer.

 

Heute ist außer Franz Spengler und einer Yuccapalme niemand in dem Raum mit den vielen Bildschirmen im Gas-und-Dampfkraftwerk am Karlsruher Rheinhafen. Leuchtstoffröhren verströmen zweckmäßiges Licht, die großen Fenster geben den Blick auf Schautafeln in einem

menschenleeren Gang frei. Das Telefon hat heute noch nicht geklingelt. Es wird auch nicht mehr klingeln. „Dabei wäre in den zurückliegenden kalten Wochen Saison für uns gewesen“, sagt der silberhaarige Kraftwerksmeister, der seit 35 Jahren in dem Komplex am Rhein arbeitet, und zuckt mit den Schultern.

Dann macht der 55-Jährige sich wieder auf den Weg in den benachbarten Steinkohleblock, wo eine Kohlemühle Ärger bereitet. Wie alle hier Beschäftigten kennt er sich auch dort aus. Im Gaskraftwerk wird Spengler selten gebraucht, denn RDK4, so heißt die Anlage im Jargon des Betreibers EnBW, läuft zurzeit nur im Bereitschaftsbetrieb – Strom wird nicht produziert. Selbst in den langen Winterwochen nicht, als der Strombedarf hoch war.

Das Kraftwerk lief bisher nur einmal in diesem Jahr

Das wichtige Telefon klingelt generell nur noch selten. Spengler muss in einem der Ordner im Regal nachschlagen, wann zuletzt: am 27. Februar – zum ersten und bisher letzten Mal in diesem Jahr. 2012 war es nicht besser: Gerade einmal 100 Betriebsstunden lief das Gaskraftwerk auf Anforderung der Einsatzleitung. Weitere 120 Stunden musste RDK4 ans Netz, um Prüfungen und Messungen zu absolvieren – sonst hätte der Entzug der Betriebsgenehmigung gedroht.

Früher lief das 1997 auf Gas umgestellte Kraftwerk 3000 bis 3500 von den 8760 Stunden eines Jahres, erinnert sich Spengler, der auch noch die Zeit erlebt hat, als in Block vier Kohlestrom produziert wurde. Heute liefert hier eine moderne Gasturbine in Kombination mit der nachgeschalteten alten Dampfturbine einen der höchstmöglichen Wirkungsgrade eines erdgasbetriebenen Kraftwerkes: 57 Prozent der als Brennstoff eingesetzten Energie kommen als Strom wieder aus dem Kraftwerk heraus. Mehr schafft nur ein Block des Konkurrenten Eon im bayrischen Irrsching. Beide nutzen die hohe Temperatur der Abgase, um Wasser zu erhitzen und mit dem Dampf eine zweite Turbine zu betreiben.

Modern, klimaschonend und trotzdem steht die Anlage still

RDK4 gehört nicht nur zu den modernsten, sondern auch zu den klimaschonendsten konventionellen Kraftwerken weltweit. Es wäre prädestiniert, eine prominente Rolle bei der deutschen Energiewende zu spielen: Denn Gaskraftwerke sind aus Umweltgesichtspunkten ideal dazu geeignet, Strom zu liefern, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Doch selbst dann ist das Gaskraftwerk in Karlsruhe nicht in Betrieb, denn was aus Umweltgesichtspunkten ideal ist, macht aus betriebswirtschaftlichen Gründen derzeit keinen Sinn in Deutschland. Stattdessen läuft das 1985 in Betrieb genommene Steinkohlekraftwerk nebenan – mit einem deutlich niedrigeren Wirkungsgrad und deutlich höherem Ausstoß an Treibhausgasen.

Der Grund dafür lässt sich bei der Einsatzleitung erfahren – der für den Ein- und Verkauf von Strom zuständigen EnBW-Tochter ETG, die in der riesigen Konzernzentrale auf der anderen Seite der Stadt sitzt. Die Kollegen bieten den EnBW-Strom an der Strombörse in Leipzig an – oder kaufen Elektrizität, wenn die Preise so niedrig sind, dass sich das Anwerfen eigener Kraftwerke nicht lohnt. Jeden Tag nehmen sie unter anderem mittags um 12 Uhr an der sogenannten Spotmarktauktion teil, in der die Strommengen für den kommenden Tag gehandelt werden.

Viel Kritik an der Effizienz des Emissionshandels

Die Gebote für diese Auktion stehen in komplizierten Tabellen. Für jede Stunde gibt es Kolonnen mit Preisen und Strommengenangeboten in Megawatt. Was sich dahinter verbirgt, ist nichts anderes als die Preise der einzelnen Kraftwerkstypen – je nach Alter und Brennstoff produzieren die Anlagen zu unterschiedlichen Preisen. Atomkraftwerke liefern zu niedrigeren Kosten Strom als Braunkohlemeiler, diese produzieren wiederum billiger als Steinkohlekraftwerke, dann folgen gasbetriebene Anlagen, die wiederum günstiger als Ölkraftwerke sind. Gas ist in Deutschland ein teurerer

Brennstoff als Kohle – erst recht, seitdem in den USA massenhaft Schiefergas gefördert wird und sehr billig geworden ist. Als Folge verbrauchen die Amerikaner weniger Kohle und bringen sie stattdessen auf den Weltmarkt, was dort den Preis senkt. Den Einsatz von Gas könnte theoretisch noch der europäische Emissionshandel befördern, der den Ausstoß von Treibhausgasen teuer und umweltfreundliche Produktionsweisen günstiger machen soll. Doch seit gut einem Jahr sind die Zertifikate so billig, dass ihre Existenz kaum mehr ins Gewicht fällt. Und ein Versuch, den Handel wiederzubeleben, ist in der vergangenen Woche am ablehnenden Votum des EU-Parlamentes gescheitert.

Also bleibt die betriebswirtschaftliche Reihenfolge der Kraftwerksarten, wie sie nun mal ist. Da in Deutschland aber zusätzlich zahlreiche Megawattstunden regenerativ erzeugt werden, müssen konventionelle Kraftwerke generell viel weniger Strom produzieren als früher. Und je mehr Strom regenerativ erzeugt wird, desto seltener ist es notwendig, ein relativ teures Gaskraftwerk anzuwerfen, um die Nachfrage zu befriedigen, dazu reichen Kohle- und Atomstrom. Doch ein stehendes Kraftwerk kostet Geld – und selbst wenn das Gaskraftwerk einmal läuft, wirft es keinen oder kaum Gewinn ab, weil der Preise an der Strombörse in der Regel gerade mal die Brennstoffkosten deckt. Wie man es dreht oder wendet: mit Gaskraftwerken ist in Deutschland derzeit kein Staat zu machen. Und entsprechend stellen derzeit alle deutschen Kraftwerksbetreiber ihre Gaskraftwerke infrage. Auch die EnBW.

Keine Stromproduktion, weil es an Brennstoff mangelte

Schon seit Anfang 2012 decken die Börsenpreise nur noch an einzelnen Tagen die Kosten des Karlsruher Gaskraftwerks, sagt der Kraftwerksleiter, der 47-jährige Physiker Joachim Manns. „Als es im Februar letzten Jahres so kalt war, dass die Preise deutlich gestiegen sind, haben wir kein Gas gekriegt“, erinnert sich der Produktionsleiter, der 50-jährige Jürgen Szabadi. Damals hatte Russland den Gasexport vor allem nach Süddeutschland reduziert, und RDK4 machte Schlagzeilen, weil es wegen Brennstoffmangels keinen Strom liefern konnte.

Leise ist es im Kraftwerk. Die Ohrstöpsel in den Spendern an der Wand braucht momentan keiner. Und kühl ist es – jedenfalls für die, die sich hier auskennen. 35 bis 40 Grad, schätzt der hochgewachsene Szabadi, herrschen normalerweise neben der dick gedämmten, haushohen Anlage, in der Wasser durch die mehrere Hundert Grad heißen Abgase strömt. Er geht voran durch das menschenleere Kraftwerk, eine Gittertreppe hinauf zu dem Raum, in dem die Gasturbine steht. „CO2-Löschanlage“ steht auf der Tür. „Bei Feueralarm oder Ausströmen von CO2: Raum sofort verlassen! Lebensgefahr!“ Routiniert warnt Szabadi: „Wenn ein Alarm ertönt, müssen wir hier, so schnell es geht, raus“ – wohl wissend, dass das nicht passieren kann, weil das Kraftwerk nicht läuft. Wäre es in Betrieb, und bräche dann ein Brand aus an der Gasturbine, würde nicht Wasser oder Schaum den Brand ersticken, sondern giftiges Kohlendioxidgas.

Im Inneren erinnert die Anlage an eine Raumstation

Innen sieht die Ummantelung der Turbine so aus, wie man sich das Äußere der ISS vorstellt – die Zuleitungen, die rundherum in die Maschine führen, sind mit silbrig glänzendem, gepolstertem Stoff überzogen. Szabadi gefällt der Vergleich mit der Raumstation: „Das ist Raumfahrt, das ist Hightech“, schwärmt er. Dann wird er ernst. „Um dieses Kraftwerk zu betreiben, ist viel

Wissen nötig.“ Ein guter Kraftwerksmeister höre, ob in der Anlage alles in Ordnung sei – das ist wichtig, denn bei der Temperatur von 530 Grad, auf die das Wasser erhitzt wird, ist Dampf nicht sichtbar. Eine Leckage ist mit bloßem Auge erst beim Auftreten des Strahls auf die nächstliegende Wand erkennbar. Nur wer Erfahrung hat, kennt die Gefahr. Zehn Jahre dauere es, bis aus einem Elektroniker, Mechaniker oder Mechatroniker ein Kraftwerksmeister werden könne.

Das sei Wissen, das am Leben erhalten werden müsse, ergänzt Joachim Manns. Und zurzeit kann es in Karlsruhe niemand erwerben. Noch sei das kein Problem, betont Manns. Aber irgendwann werde es eins. Schon heute lasse sich die Personalstärke nur halten, weil einige Hundert Meter weiter bald das neue Kohlekraftwerk RDK8 den Betrieb aufnimmt und alle Mitarbeiter so geschult werden, dass sie in allen Kraftwerksblöcken arbeiten können. Wie viele Menschen insgesamt auf dem Karlsruher Kraftwerksareal arbeiten, will Manns nicht verraten – und auch nicht, ob es in den letzten Jahren weniger geworden sind. Doch man ahnt die Antwort.

Aktuell wird das moderne Kraftwerk nur leicht bedampft, damit die Kesselanlage nicht rostet, erklärt der Szabadi. Würde man das Kraftwerk stilllegen, müsste man die Teile entsprechend schmieren. Jetzt wäre die Anlage in der relativ kurzen Zeit von zehn Stunden angefahren. Müsste man die alte, noch aus den Kohlekraftwerkszeiten der sechziger Jahre stammende Dampfturbine nicht mit besonderem Feingefühl anfahren, wären es sogar nur drei Stunden. Aber warum sollte man das ehrwürdige Gerät ertüchtigen, wenn das Kraftwerk gerade ohnehin niemand braucht und das langsamere Anfahren niemanden wirklich stört. Die Frage stellt sich ja doch nur, wenn das schwarze Telefon in der Einsatzzentrale klingelt. Wann das das nächste Mal sein wird, ist nicht abzusehen. Wohl frühestens, wenn es wieder kalt wird. Vielleicht.