Exklusiv Der Mordparagraf ist ungerecht und benachteiligt Frauen. Deshalb muss er reformiert werden, fordert Bundesjustizminister Heiko Maas in einem Gastbeitrag anlässlich des Anwaltstags, der von Donnerstag bis Samstag in Stuttgart stattfindet.

Berlin - - Seit Jahren wird unter Juristen über eine Reform des Tötungsstrafrechts diskutiert – bis jetzt ergebnislos. Der Deutsche Anwaltsverein hatte Anfang 2014 eine Reform gefordert. Das ist der Hintergrund, vor dem Bundesjustizminister Heiko Maas eine Änderung des Rechts anstrebt. Um was es ihm geht, erläutert er in einem Beitrag für die Stuttgarter Zeitung:
Jeder kann die Probe machen und sich in seinem Bekanntenkreis umhören: Was ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag? Die allermeisten werden antworten: Mord – das ist die überlegte, vorsätzliche Tötung, Totschlag – das ist die Tötung im Affekt. Aber so ist es nicht. Die Regelung, die die meisten Deutschen für aktuell gültig halten, gilt tatsächlich seit über 70 Jahren nicht mehr. Das, was die meisten für richtig halten, spricht für das Rechtsempfinden der Deutschen. Die Regelung aber, die heute im Gesetzbuch steht, stammt im Wesentlichen von einem der furchtbarsten Juristen der Nazizeit, von Roland Freisler.
Bis heute ist der Mordparagraf vom Ungeist der Naziideologie geprägt. Von den meisten juristischen Laien unbemerkt, stellt das die Strafjustiz bis heute vor große Probleme. Ausgerechnet dort, wo es um schwerste Schuld und härteste Strafen geht, ist das Gesetz nämlich schwammig formuliert. Der Mordparagraf benachteiligt außerdem Frauen.
Um dennoch gerechte Urteile zu fällen, mussten die Gerichte bisweilen bis an die Grenze der zulässigen Rechtsauslegung gehen. Manche sagen sogar, dass die Justiz Umgehungsstrategien anwenden musste, um das Tötungsrecht zu bändigen und in unser demokratisches System einzupassen. Ich will, dass das nicht länger so bleibt. Wir sollten unsere Gerichte nicht dazu zwingen, unter Mühen überkommene Gesetze anzuwenden.

„Die Formulierung ‚niedrige Beweggründe’ ist unpräzise“

 
Nach der brutalen Ideologie der Nazis sollte auch das Strafrecht zeigen, dass nur bestimmte Typen von Menschen Mörder sind, und zwar nicht erst durch ihre Tat, sondern als Ausdruck einer charakterlichen Minderwertigkeit, die ihnen kraft Herkunft oder „Rasse“ angeblich innewohne. Unklare Formulierungen waren dem nationalsozialistischen Gesetzgeber von 1941 daher gerade recht. Sein Ziel war, dass der Richter sich den Täter nur anzusehen braucht und dann entscheiden kann: „Dieses Subjekt verdient den Strang“, wie es zur Begründung hieß.
Die Todesstrafe gibt es nicht mehr, sie wurde mit Einführung des Grundgesetzes abgeschafft und durch die lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt. Geblieben ist die unpräzise Formulierung, etwa die „niedrigen Beweggründe“. Solche Gründe sollen jemanden, der getötet hat, zum Mörder qualifizieren. Aber was genau ist „niedrig“? Ist Eifersucht eine auf niedrigster Stufe stehende Regung oder kann sie nicht auch allzu menschlich sein? Die Antwort muss wohl lauten: Es kommt auf die Umstände im Einzelfall an. War der Täter eher getrieben von Rache oder eher außer sich vor Verzweiflung? Den Nazis mag ein so dehnbarer Begriff wie „niedrige Beweggründe“ gerade recht gewesen sein, so wurde er zum Einfallstor für Willkür. In unserem Rechtsstaat muss aber klar bestimmt sein, was strafbar ist.
Das gilt besonders dort, wo schwerste Strafen drohen, denn auch wenn die lebenslange Freiheitsstrafe inzwischen in vielen Fällen nach einer Mindestdauer von 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden kann: Wer als Mörder verurteilt worden ist, verbüßt im Schnitt 18-einhalb Jahre, gut 12 Jahre mehr als jemand, in dessen Urteil auf Totschlag erkannt wurde.

„Gerechte Urteile sollten den Gesetzen nicht abgetrotzt werden“

Die Gerichte haben in den vergangenen Jahrzehnten überzeugende Kategorien entwickelt für die vielen Motive, die jemanden dazu bewegen können, einen anderen Menschen zu töten. Sie haben aus einem schlechten Gesetz das Beste gemacht.
Das gilt auch für die sogenannten Haustyrannen-Fälle, die zeigen, wie sehr das geltende Recht zu Lasten von Frauen geht. Das zeigt der folgende Beispielfall: Eine jahrelang von ihrem Mann misshandelte Frau, die sich schon oft vergeblich um Hilfe bemüht hat, weiß irgendwann keinen Ausweg mehr und tötet ihn im Schlaf. Sie hat heimtückisch gehandelt und Heimtücke bedeutet Mord. Nehmen wir jetzt zum Vergleich einen Mann, der seine Frau erst jahrelang peinigt und dann schließlich tötet. In der Regel verwirklicht er kein Mordmerkmal. Er wird dann wegen Totschlags verurteilt. Nach dem Gesetz wiegt das Unrecht, das die Frau begangen hat, also viel schwerer als das des Mannes, mit der praktischen Folge, dass ihre Strafe im Schnitt 12 Jahre höher ausfallen wird als seine.
Das ist offensichtlich ungerecht. Die Justiz hat auch hier gerechte Wege gefunden. Sie griff etwa zu Gunsten einer angeklagten Frau auf Milderungsgründe zurück, die für Mord gar nicht vorgesehen sind. Ich meine aber: Gerechte Urteile sollten den Gesetzen nicht abgetrotzt werden müssen, sondern in ihnen schon angelegt sein.

„Wir sollten den Richtern nicht länger Klimmzüge abverlangen“

An dem Grundsatz, dass jemand schwer bestraft werden muss, wenn er einem anderen Menschen das Leben nimmt, will ich nicht rütteln. Es geht hier schließlich um den Archetyp von Normen für das menschliche Zusammenleben. Schon im Alten Testament steht: „Du sollst nicht töten.“ Aber gerade der moderne Staat, der zum scharfen Schwert langjähriger Freiheitsstrafen greift, muss genaue, trennscharfe Grenzen vorgeben. Wir sollten den Richterinnen und Richtern nicht länger Klimmzüge abverlangen, um zu angemessenen Entscheidungen zu kommen, sondern ihnen eine einzelfallgerechte Auslegung erleichtern. Ich habe deswegen im Mai eine Expertengruppe einberufen. Ich bin davon überzeugt, dass die Vorschläge, die sie erarbeitet, sehr viel überzeugender sein werden als das geltende Recht.
Angemahnt wird eine Reform schon seit langem. Schon auf dem Juristentag im Jahr 1980 galt das Tötungsrecht als „Dauerproblem der Strafrechtsgeschichte“. Mit großer Mehrheit empfahl er dem Gesetzgeber damals schon eine grundlegende Korrektur.
Seither gab es immer wieder Reformappelle. Zuletzt hat der Deutsche Anwaltsverein einen Alternativvorschlag erarbeitet. Getan hat sich nichts. Viele hatten deswegen schon aufgegeben, auf eine Änderung zu hoffen, und von einer vergessenen Reform gesprochen.
Sie ist nicht vergessen. Ich will sie nun anpacken. Die Zeit ist reif, dieses Dauerproblem zu beenden, damit nicht nur erst die Urteile unserer Justiz, sondern schon das Gesetz in unseren Rechtsstaat passt. Dabei muss niemand befürchten, die Menschen in Deutschland könnten sich an das neue Recht nicht gewöhnen. Sie kennen das geltende ja kaum.