Der Fußball ist omnipräsent. Der Fußball ist dominant. Vom Fußball werden alle anderen Sportarten an den Rand gedrängt. Das ist nicht gut. Ein Gastbeitrag von Helmut Digel, ehemaliger Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes.

Stuttgart - Der Hollywoodstar Leonardo DiCaprio ist vor ein paar Wochen zur Fußball-WM nach Brasilien gereist. Der US-Schauspieler traf mit 21 Freunden in Rio de Janeiro ein und bezog ein Quartier auf einer Luxusyacht. DiCaprio und seine Entourage logierten auf der Topras, die Scheich Mansour bin Zayed al-Nahyan aus Abu Dhabi gehört – dem Besitzer des britischen Fußballclubs Manchester City. Die Yacht ist 147 Meter lang und hat unter anderem Schwimmbad, Fitness-Studio, Hubschrauberlandeplatz und Kino an Bord. Was zeigt: auch das Fußball-Drumherum nimmt einen immer größeren Raum ein.

 

Der Fußball ist omnipräsent. Er wirkt wie eine Droge auf „die da oben“ in gleicher Weise wie auf jene, die sich am Rande der Gesellschaft befinden. Dabei hat der Fußballsport längst den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Weil er schon immer präsent ist, kann man sich eine andere Situation nicht mehr vorstellen. Und die Präsenz wird noch umfassender, wenngleich sie schon alle Grenzen überschritten hat. Der Fußball ist imperial, und sein Spitzenfunktionär Sepp Blatter ist dessen Imperator. Fußball wird diktiert, und zu Recht wird deshalb Blatter von vielen als Diktator gesehen.

Das Fußballspiel wird philosophisch überhöht

Imperien neigen dazu, krankhafte Züge zu entwickeln, und genau dies ist schon seit längerer Zeit im modernen Fußball der Fall. Wie selbstverständlich beansprucht der Fußball einen Monat des Jahres, um mit einer allumfassenden Dominanz ein Turnier auszutragen, wie dies für kein anderes Kulturgut der Welt möglich und sinnvoll wäre. Während dieses Fußballmonats stehen die Räder still, die Wirtschaft lahmt, die Ausbildung von Schülern und Studenten wird beeinträchtigt, die Interessen von Minderheiten, die am Fußball nicht interessiert sind, werden erst gar nicht zur Kenntnis genommen.

Der volkswirtschaftliche Schaden, der allein durch dieses imperiale Gehabe entsteht, wird von niemandem berechnet, er wird vielmehr schöngeredet – und selbst wissenschaftliche Eliten bemühen sich, das Fußballspiel philosophisch zu überhöhen, die Fußball-Weltmeisterschaft zu stilisieren und die Fußballspieler in das Reich der Göttlichen zu überführen. Doch damit nicht genug. Fußball findet schließlich das ganze Jahr über statt.

Auf allen Kanälen werden selbst in der Sommerpause täglich Fußballübertragungen angeboten. Die Verantwortlichen des Fernsehens rechtfertigen ihr Programm damit, dass sie das Interesse der Zuschauer zu ihrem alleinigen Selektionskriterium erheben. Fußball ist die beliebteste Fernsehsportart, und weil sie beliebt ist, wird dem Zuschauer immer noch mehr Fußball geboten und dadurch wird er noch beliebter, als er er ohnehin schon ist.

Massenmedien profitieren von der Massenkultur

Auch hier erkennt man das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung. Gab es noch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vorsichtige, in leisen Tönen vorgetragene Kritik an dieser Entwicklung des Fußballsports, so ist er heute nahezu ausschließlich von Claqueuren umgeben. Die Claqueure kommen wie DiCaprio aus dem Filmgeschäft, aus der Kunst, aus der Wissenschaft und aus der Literatur, sie kommen vor allem aber auch aus der Politik und der Wirtschaft. Ganz vorne stehen aber die Massenmedien, die zwar immer wieder auf Auswüchse hinweisen und auf Fehlentwicklungen aufmerksam machen, gleichzeitig aber von dieser dominanten fußballerischen Massenkultur profitieren und sie selbst zu dem gemacht haben, was sie heute ist.

Den Fußball von heute trennen Welten von jenem Fußball, der für die Industriearbeiterschaft des 20. Jahrhunderts noch eine zentrale Rolle spielte. Die Fifa-Funktionäre und die Fußballprofis bewegen sich in einer Welt des Luxus, die immer häufiger dekadente Züge aufweist. Der Fünf-Sterne-Pomp wird von WM zu WM gesteigert, die Ansprüche sind ins Unermessliche gewachsen. Dies gilt für die Spieler gleichermaßen wie für die Trainer und Funktionäre. Die Architektur der Stadien gleicht dem imperialen Gehabe von Königen und Fürsten, die sich mit ihren Palästen gegenüber dem einfachen Volk abzugrenzen versuchten. Obwohl doch die große WM-Party auf dem Rücken des Steuerzahlers gefeiert wird. Es entstehen enorme, nicht mehr zu verantwortende öffentliche Kosten. Dies alles wird von der Politik toleriert und goutiert, ohne dass auch nur in Ansätzen eine Opposition zu erkennen wäre. Die Wirtschaft hat sich ebenso auf den Fußball eingelassen, weil damit enorme Gewinne erzielt werden können. Und der kleine Mann glaubt diese Droge zu benötigen, weil sie ihm eine Flucht aus dem Alltag ermöglicht.

Früher gab es Fußball ohne Suchtcharakter

Für eine gemeinsame Sportkultur hat die Dominanz des Fußballs eine verheerende Wirkung. Fußball steht immer mehr für den gesamten Sport. Er ist der reichste Sport, und er ist längst in der Lage, andere Disziplinen zu alimentieren. Neben dem Fußball wird alles andere zum Randsport. Vom Sponsorenkuchen gibt es allenfalls Krümel.

Der Fußball hat es – und daran zeigt sich auch seine Dominanz – locker ins Feuilleton geschafft. Eine ganz besondere Adelung erhält er, wenn sich Philosophen, Literaten, oder Soziologen mit dem Spiel beschäftigen. Die intellektuellen Lobeshymnen wirken dabei häufig anbiedernd und sind vielfach ökonomischen Interessen geschuldet. Und von Fans sind nun mal keine nüchterne Analysen zu erwarten. Eigentlich könnte man diesen Erscheinungsformen und Entwicklungen ganz gelassen gegenüberstehen. Sämtliche Imperien neigten zur Dekadenz, und nicht wenige sind deshalb zugrunde gegangen.

Ein Fußball ohne Suchtcharakter ist aber vorstellbar, es hat ihn in den früheren Zeiten gegeben, und es gibt ihn auch noch heute. Die Frage ist nur, ob wir ihn auch wirklich wünschen und ob wir bereit sind, uns in Entzug zu begeben, an dessen Ende jedoch ein schönerer Fußballsport stehen könnte, als er uns heute vorgeführt wird.

Der Autor

Helmut Digel Foto: Getty Images
Helmut Digel (70) war Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees und des Internationalen Leichtathletikverbands. Der emeritierte Professor leitete das Institut für Sportwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.