Die rasante Entwicklung der Angewandten Mathematik war Thema der Gauß-Vorlesung in der Stuttgarter Stadtbibliothek. Zum Jubiläum haben die deutschen Mathematiker die Universität Stuttgart geehrt. Und gezeigt, dass man nervige Alltagsprobleme durchaus mit Mathematik lösen kann.
Stuttgart - Ob Zug, Auto oder Fahrrad: wenn ein Fahrzeug mit einer Bremse ausgestattet ist, dann kann diese auch quietschen. Das ist dann ziemlich nervig. „Selbst wenn es kein Sicherheitsproblem darstellt, so ist es für die Zufriedenheit der Kunden doch sehr wichtig, dass eine Bremse nicht quietscht“, umreißt Volker Mehrmann das Problem der Hersteller.
Nun ist Mehrmann kein Ingenieur, sondern Mathematikprofessor an der Technischen Universität Berlin und Sprecher des Matheons. Dieses mathematische Kompetenzzentrum in Berlin hat sich das Ziel gesetzt, Mathematik für Schlüsseltechnologien zu entwickeln. Dazu gehören beispielsweise mathematische Modelle, mit deren Hilfe Simulationen möglich werden, die es erlauben, anschließend die entsprechenden Vorgänge oder Bauteile zu optimieren. MSO heißt das: Modellierung, Simulation, Optimierung. Wie das konkret funktioniert, erläuterte Mehrmann am Beispiel der Scheibenbremse – und zwar im Rahmen der 25. Gauß-Vorlesung, mit der die Deutsche Mathematiker Vereinigung die Universität Stuttgart geehrt hat. Namenspate ist der Universal-Wissenschaftler Carl Friedrich Gauß, der von 1777 bis 1855 lebte und nach dem zahlreiche mathematischen und physikalischen Phänomene sowie deren Lösungen benannt sind.
Formeln mit Millionen Unbekannten gegen quietschende Bremsen
In der Jubiläumsvorlesung sollte nun mit Mehrmanns Vortrag „Was tun, wenn die Bremse quietscht – Mathematische Modellierung, Simulation und Optimierung im Kampf gegen Alltagslärm“ die rasante Entwicklung der Angewandten Mathematik thematisiert werden. Hintergrund sind die immer leistungsstärkeren Computer, mit denen sich etwa technische Entwicklungen erheblich beschleunigen lassen. Das funktioniert aber nur, wenn die Ingenieure passende Modelle zur Verfügung stellen – und die Mathematiker die nötigen Rechenvorschriften entwickeln.
Wie das geht, erläuterte Mehrmann seinen mit großem Interesse zuhörenden Publikum im prall gefüllten Vortragssaal in der Stuttgarter Stadtbibliothek. Wenig verwunderlich ist, dass es dabei schnell ziemlich mathematisch wird und sich die Leinwand mit Formeln füllt. Auch schwirren jede Menge mathematischer Begriffe durch den Raum, beispielsweise die Modellierung mit finiten Elementen. Dies ist ein wichtiges Verfahren bei der Konstruktion technischer Bauteile, der Erforschung ihres Verhaltens und deren anschließenden Optimierung. Es basiert darauf, ein Bauteil in viele kleine Elemente – Dreiecke oder dreidimensionale Tetraeder – so zu zerlegen, dass sie sich insgesamt der zu berechnenden Form annähern. Diese endliche – finite – Zahl an Elementen lässt sich mathematisch mehr oder weniger einfach handhaben. Damit ist auch ein Bezug zur Uni Stuttgart gegeben: Hier forschte nach 1959 der Bauingenieur John Argyris, ein Mitbegründer der Finite-Elemente-Methode.
Was folgt, sind beeindruckend umfangreiche mathematische Berechnungen: Gleichungen mit mehreren Millionen Unbekannten. Das ist ziemlich aufwendig und teuer. Also ist es sinnvoll, das bestehende Bremsenmodell zu reduzieren und nach einem kleineren Ersatzmodell zu suchen. Das war dann die Aufgabe der Mathematiker, die, wie Mehrmann berichtet, dabei auch recht erfolgreich waren. Jedenfalls sind die Ingenieure der quietschfreien Bremse damit ein Stück näher gekommen.