Gauthier Dance tanzt wieder den fulminanten „Nijinski“ und startet in eine Saison der Extraklasse: Der zehnte Geburtstag der Stuttgarter Theaterhaus-Truppe und die zweite Ausgabe des „Colours“-Festivals stehen an.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Nach „Infinity“ war es um sie geschehen: „Ich habe mich bei dem Tanzabend so in die Company verliebt!!“, erzählt die Tänzerin Barbara Melo Freire. Sie habe Gauthier Dance schon immer aus der Ferne beobachtet, aber „viel Respekt“ gehabt; der Besuch von „Infinity“ habe sie bewogen, es mit dem Vortanzen zu versuchen. Jetzt ist sie überglücklich, dass sie seit Saisonbeginn Eric Gauthiers Tanz-Company verstärkt.

 

Die gebürtige Brasilianerin tanzte zuletzt sieben Jahre in Dortmund, zuvor war sie, nach ihrer Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule in Berlin, in Rostock und Schwerin engagiert. Warum es sie nach Stuttgart zog? „Bei Gauthier Dance geht es nicht darum, nur Schrittchen zu machen, sondern die Tänzer sind ein Team, das die Bühne rockt. Hier ist es bunt“.

Damit fasst die schmalgliedrige 31-Jährige treffend das Erfolgsrezept der Gauthier Dance Company zusammen. 2007 war die Kompanie mit sechs Tänzern an den Start gegangen – inzwischen zählt die freie Truppe 16 Tänzerinnen und Tänzer und ist aus der Tanzszene von Stadt und Land nicht mehr wegzudenken. Eric Gauthier, einst Publikumsliebling des Stuttgarter Balletts, ist es als Kompaniechef gelungen, oben auf dem Pragsattel dem ehrwürdigen Balletthaus unten am Eckensee etwas entgegenzusetzen: Tanz durch und durch zeitgenössisch, offen, neugierig, mal humorvoll, mal ernst, immer qualitätsvoll – kurzum: bunt. Ein Konzept der Vielfarbigkeit, das Gauthier im 2015 von ihm aus der Taufe gehobenen Tanzfestival „Colours“ verdichtete – ein Ereignis, das aus dem Stand heraus zum Publikumsknüller wurde.

Mit „Big Fat Ten“ wird Geburtstag gefeiert

„Als wir anfingen, hieß es: Der schafft keine fünf Jahre“, erinnert sich Eric Gauthier. „Aber wir leben immer noch – und alle Choreografen wollen mit uns arbeiten.“ Dass der 39-Jährige in diesen Tagen zurückblickt, hat seinen Grund, denn vor ihm liegt eine außergewöhnliche Saison: Gefeiert werden nicht nur die zweite Ausgabe des „Colours – International Dance Festival“ im Juli 2017, sondern auch zehn Jahre Gauthier Dance Company.

Schon jetzt wird für die Jubiläumsproduktion eifrig geprobt, die am 1. März 2017 Premiere feiern wird. Im Titel „Big Fat Ten“ steckt das typische Gauthiersche Augenzwinkern: „big und fat gibt es ja im Tanz nicht“; gleichzeitig wird gewitzt das Zahlenspiel früherer Produktionen wie „Six Pack“ oder „Lucky Seven“ fortgesetzt.

Auf dem Programm stehen jedoch nicht zehn, sondern sieben Choreografien. Bemerkenswerte fünf davon sind Uraufführungen, beigesteuert von Namen, die der Company bereits bestens vertraut sind. So studiert Itzik Galili aus den Niederlanden derzeit eine neue Choreografie mit einer Reihe von Tänzern ein; vier Tänzerinnen sind nach Sevilla gereist, um mit dem Schweden Johan Inger zu proben. Neukreationen liefern zudem der Spanier Alejandro Cerrudo sowie der „griechische Shooting-Star“ Andonis Foniadakis. Die kanadische Choreografin Marie Chouinard wurde bei „Colours“ I umjubelt, von ihr steht ein Solo auf dem Programm; Nacho Duato steuert einen Pas de deux bei. Auch von Eric Gauthier selbst kommt ein Beitrag. Im Moment sei er noch „am Sammeln“, es soll um die „heutigen Zeiten im Zeichen von Chaos, Krieg und Schmerz und einen kleinen Winkel Hoffnung“ gehen.

Nach „Ballet 101“ kommt „Ballet 102“

Mit „Ballet 102“ hat der Stuttgarter Kompaniechef soeben das Publikum der „Kreml-Gala“ in Moskau aus dem Häuschen gebracht und den Namen Stuttgart in die Welt hinausgetragen. Das Stück ist eine Fortschreibung von „Ballet 101“, jenem Gala-Highlight, in dem ein Tänzer 101 Ballettpositionen so unterhaltsam wie ästhetisch aneinander reiht. Nun hat Gauthier personell verdoppelt: Das „Ballet 102“ vereint 102 klassische Pas-de-deux-Positionen – „auch solche, die es gar nicht gibt“, sagt der Choreograf und lacht.

In Stuttgart war die von den Berliner-Staatsballett-Solisten und ehemaligen Stuttgarter-Ballett-Angehörigen Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera getanzte Choreografie noch nicht zu sehen, – man darf darauf gespannt sein. Gut möglich, dass die Weihnachtsvorstellungen des überarbeiteten „Infinity“-Abends („Infinity Reloaded“) im Theaterhaus oder das zweite „Colours“-Festival dazu die Gelegenheit bieten, das von 6. bis 23. Juli 2017 stattfinden soll. Was alles in diesen zwei Tanzwochen steckt, soll Ende November bekannt gegeben werden. Gauthier Dance selbst will in „Mega Israel“ mit Choreografien unter anderem von Sharon Eyal und Ohad Naharin der innovativen israelischen Tanzszene Tribut sollen – beide Vertreter waren schon bei der ersten Festivalausgabe dabei.

Jede Menge neue Herausforderungen stehen der Company damit ins Haus – und jede Menge Gastspielreisen, mit dem Tanzabend „Infinity“ wie auch dem Stuttgarter Tanz-Highlight der vergangenen Saison, „Nijinski“, mit dem Gauthier Dance ab 26. Oktober im Theaterhaus in die Saison startet. Marco Goeckes meisterhaft choreografierte Sicht auf die russische Tänzerlegende, die im Juni uraufgeführt wurde, hat Gauthier Dance kurzfristig eine Einladung beim Festival International Madrid en Danza Ende November beschert; im März 2017 geht die Produktion mit sechs Vorstellungen ans Joyce Theatre nach New York.

Für mehr Auswärts-Gastspiele reicht das Geld nicht

Ottawa, Tel Aviv, Toronto, Sankt Petersburg, rattert Eric Gauthier weitere Stationen des Jahres 2017 herunter, um dann für einen kurzen Moment einen nachdenklichen Ton anzuschlagen: Man habe sich international einen Namen gemacht und die Company toure sehr gern. Doch die Eigeneinnahmen und die Zuschüsse von Stadt und Land reichten nicht aus, um die Kosten für mehr Gastspiele zu decken. Viele Einladungen könne man also gar nicht annehmen.

Nichtsdestotrotz freue er sich auf „ein wunderschönes Jahr“, wie freilich auch Barbara Melo Freire, die nicht der einzige Neuzugang in seiner Truppe ist. Ebenfalls neu dabei: Theophilus Veselý. Als ehemaliger John-Cranko-Schüler ist dem gebürtigen Österreicher Stuttgart bereits vertraut, nach seiner Ausbildung war der 23-Jährige beim Ballett Augsburg unter Vertrag.

Schon im vergangenen Dezember zur international zusammengewürfelten Tänzerschar hinzugekommen war Reginald Lefebvre, der aus Korsika stammt und bei der Ausbildungscompagnie It Dansa in Barcelona sowie beim Tanzcompany Project Sally Maastricht Erfahrungen sammelte. Dass er, ebenfalls 23, in der zehnten Saison auf die Gauthier-Company stößt und hier die Gelegenheit bekommt, mit den „besten Choreografen der Welt“ zusammen zu arbeiten, sei eine Herausforderung. Aber auch schlichtweg „cool“.