Nach dem Zugunglück von Bad Aibling kritisiert Claus Weselsky, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, die Risiken durch Funklöcher im Schienenverkehr.

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Berlin - Das Zugunglück in Bad Aibling hat Fragen der Sicherheit im Bahnverkehr aufgeworfen. Konkret geht es dabei um das Notrufsystem. Claus Weselsky, der Bundesvorsitzende der Lokführergewerkschaft, fordert, dass alle Sicherheitslücken geschlossen werden müssen.

 
Herr Weselsky, nach dem Zugunglück in Bad Aibling mit elf Toten und 85 Verletzten fragen sich viele, wie das passieren konnte. Sie sind erfahrener Lokführer – haben Sie eine Erklärung?
Hauptursache ist nach bisherigem Ermittlungsstand ein fataler Fehler des Fahrdienstleiters, der die Züge auf der eingleisigen Strecke auf Kollisionskurs schickte. Leider hat die gesamte Sicherungstechnik das Unglück nicht verhindert – hier sind unbedingt noch offene Fragen zu klären.
Zwei Notrufe sind ins Leere gegangen, die der Fahrdienstleister an die Lokführer abgesetzt haben soll, um die Kollision zu verhindern. Könnte ein Funkloch die Ursache sein?
Das ist nicht ausgeschlossen, ein Funkloch wird aber von der Deutschen Bahn bisher bestritten. Wie glaubwürdig das ist, wird man sehen. Wir müssen abwarten, was die erweiterten Ermittlungen durch das LKA Bayern noch ergeben, die durch die Landesregierung nach Ihren Zeitungsberichten angeordnet wurden.
Bundesweit existieren viele Hundert, teils kilometergroße Funklöcher an Bahnstrecken. Sind diese Funklöcher ein Sicherheitsrisiko?
Unbestreitbare Tatsache ist, dass in Funklöchern der Zugfunk GSM-R nicht funktioniert. Und deshalb können Lokomotivführer bei Gefahren im Gleis über dieses System keine schnellen Rund-Notrufe empfangen, auch das ist ein Fakt. Die Nutzung des Ersatznetzes ist umständlich, zeitraubend, und schnelle Rundrufe der Leitstelle sind damit nicht möglich. Im Notfall, wo manchmal Sekunden zählen, kann das zum  Sicherheitsrisiko werden. Und deshalb sind Funklöcher nicht zu akzeptieren.
Dennoch bestehen Funklöcher in vielen Fällen seit mehr als sechs Jahren. Warum wird dieser Zustand von den Aufsehern im Eisenbahn-Bundesamt (EBA) geduldet?
Das fragen wir uns auch. Es werden ja technische Begründungen vorgeschoben. Denn Funklöcher entstehen, wenn die Sendeleistung zu gering ist oder andere Funknetze die Zugfunk-Signale stören. Das ist aber kein Naturgesetz, sondern lässt sich ändern. Oberster Grundsatz für alle muss sein: bei der Sicherheit im Schienenverkehr darf es keine Abstriche geben. Und deshalb müssen der Zugfunk und sein Notrufsystem oberste Priorität und Vorrang vor allen anderen Funknetzen haben, immer und überall.
Das ist bislang in Deutschland nicht so? Zugfunk und Notrufe haben keine Priorität?
Leider nicht, und das muss sich unbedingt ändern. Die Verkehrspolitik und die Bundesregierung dulden hier seit Jahren ein Wirrwarr an Zuständigkeiten und offenbar auch Nachlässigkeiten, das im Ergebnis dazu geführt hat, dass unser Zugfunknetz GSM-R durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Das ist unter Sicherheitsaspekten auf keinen Fall mehr hinnehmbar.
Was muss getan werden?
Bisher gibt es offenbar einen sogenannten Regelprozess, bei dem die DB Netze und das EBA die Funklöcher erfassen und in langen Mängellisten dokumentieren, mit denen die Lokomotivführer auf der Strecke auch über die Nutzung des Ersatznetzes informiert werden. Das ändert aber überhaupt nichts an der Tatsache, dass schnelle Notrufe an alle zum Beispiel bei drohender Kollision oder anderen Gefahren im Gleis dann nur mit Zeitverzug möglich sind.
Der derzeitige Regelprozess ist also riskant?
Richtig – der bisherige Prozess duldet die genannten Sicherheitslücken und muss von den verantwortlichen Politikern durch eindeutige Gesetze und Vorschriften ersetzt werden. Nochmals: Zugfunk muss absolute Priorität haben und darf nicht durch andere Funknetze gestört werden. Es muss deshalb auch hingenommen werden, dass leistungsstarker Zugfunk vielleicht hier und da andere Funknetze wie LTE in einem benachbarten Wohngebiet beeinträchtigt. Und wenn ein Zugfunkloch besteht, weil noch ein Sendemast fehlt, dann muss eben dieser Mast gebaut werden. Nochmals: die bestmögliche Sicherheit im Schienenverkehr muss absoluten Vorrang haben.
Die Bahn bestreitet, dass der Zugfunk stellenweise reduziert wurde, um kommerzielle Netze – wie die von Telekom und Vodafone – oder staatliche Abhör- und Überwachungsanlagen nicht zu stören.
Hier muss vor allem die Bundesregierung erklären, ob zuerst teure LTE-Frequenzen an privaten Netzbetreiber verkauft und danach die Sicherheitssysteme der DB geschwächt wurden, um die flächendeckende Vermarktung der kommerziellen Netze zu ermöglichen. Das ist bisher nur ein begründeter Verdacht, aber wenn er sich bestätigt, wäre das auch ein politischer Skandal.
Halten Sie solche Abstriche bei der Sicherheit im Schienenverkehr auch zu Gunsten kommerzieller Interessen für denkbar?
Leider ja. Es ist ja auch so, dass bereits mit der Bahnreform 1994 die gesamte bundeseigene Schieneninfrastruktur – also Gleisanlagen und Sicherungseinrichtungen, Bahnhöfe, Energieanlagen, Werkstätten – einer Gewinnmaximierung unter dem Dach der DB AG unterworfen wurden. Und auch das ist ein fataler Systemfehler. Denn wenn das Netz renditeoptimiert wird, werden die Systemvorteile der Schiene – nämlich Sicherheit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit – untergraben.
Zum Beispiel?
Schon länger sehen wir alle, dass vor allem Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit unter den Netzmängeln leiden. Nehmen wir das Winterchaos der letzten Jahre. Früher fuhr die Bahn bei jedem Wetter, heute sind wir die Ersten, die den Verkehr einstellen, weil die Anlagen nicht mehr ausreichend gewartet und modernisiert werden. Dasselbe gilt für die Pünktlichkeit: Gerade noch jeder vierte Fernzug ist halbwegs pünktlich – und das liegt nicht an den Mitarbeitern, die sich mit ganzer Kraft für das Unternehmen einsetzen, sondern ebenfalls vor allem am beklagenswerten Zustand des Schienennetzes, dessen unzureichender Instandhaltung durch die Deutsche Bahn und an der Unterfinanzierung durch den Bund.
Und könnte das auf die Sicherheit durchschlagen?
Ja, und das ist besonders erschütternd. Schon der Verdacht, dass die bestmögliche Sicherheit bei den Verantwortlichen nicht mehr ganz oben stehen könnte, ist höchst alarmierend. Es geht hier um das Wohl von Millionen Fahrgästen, aber auch um die Sicherheit unserer Lokomotivführer und Zugbegleiter. Sie alle haben den berechtigten Anspruch, dass es bei der Sicherheit keinerlei Abstriche geben darf. Und dafür werden wir uns auch als GDL mit aller Kraft einsetzen.