Noch bis vor wenigen Jahrzehnten sind psychisch kranke Menschen meist einfach weggesperrt worden. Mit dem 1973 gegründeten Rehabilitationszentrum Rudolf-Sophien-Stift sind zwei Bosch-Geschwister einen neuen Weg gegangen.

Stuttgart - Psychisch Kranke verstehen? Heute klingt das selbstverständlich. Doch vor 40 Jahren ist das noch ganz anders gewesen. Damals wurden Psychiatrien in Deutschland mehrheitlich noch als Verwahranstalten geführt. Robert Bosch junior und seine Schwester Eva Madelung hatten etwas ganz anderes im Sinn, als sie 1973 das Rudolf-Sophien-Stift als Rehabilitationszentrum für psychisch Kranke mit angegliederten Werkstätten eröffneten. Sie wollten die psychisch Kranken nicht wegsperren, sondern sie ernst nehmen und ihnen Arbeit ermöglichen.

 

„Wie kommt ein Ingenieur zur Psychiatrie“, diese Frage hat Robert Bosch jun. selbst einmal in einem Grußwort beantwortet: „Nun, mir scheint, es geht beide Male ums Verstehen.“ Für den 2004 verstorbenen Robert Bosch jun. ging seinem Engagement für psychisch Kranke ein Wendepunkt in der eigenen Biografie voraus. 1971 hatte sich Bosch jun. mit 43 Jahren aus der Geschäftsführung der von seinem Vater gegründeten Firma verabschiedet. Er wollte als analytisch orientierter Psychotherapeut neu beginnen. Er praktizierte zwar nur in München und nie im Stuttgarter Rudolf-Sophien-Stift, doch er setzte die Leitlinien des Zentrums fest: den Menschen eine geregelte und erfüllte berufliche Tätigkeit zu ermöglichen. „Das Arbeitsleben und die Psychiatrie in Verbindung zu bringen, hat ihn fasziniert“, erinnert sich Boschs Tochter, Johanna Bosch-Brasacchio. Eigentlich hatte der Unternehmer sogar das Ziel, in den Werkstätten, die damals noch auf dem Gelände des Rudolf-Sophien-Stifts angesiedelt waren, industriell zu produzieren. „Sie sollten sogar unter Normalbedingungen bezahlt werden“, sagt Johanna Bosch-Brasacchio. Doch die industrielle Produktion habe nicht realisiert werden können, der Betreuungsaufwand sei zu groß gewesen.

Damals den größten Bedarf in der Geriatrie gesehen

1977 wurde im Rudolf-Sophien-Stift die Klinische Abteilung eröffnet. Johanna Bosch-Brasacchio hat ein altes Schriftstück von 1974 mitgebracht. Mit einem Bleistift hat ihr Vater darauf das Konzept der Klinik skizziert: „Die Fachklinik soll sich auf die Psychotherapie verlegen“, schrieb Bosch jun. damals. Den größten Bedarf sah er in der Geriatrie – also bei der Versorgung der alten Menschen. „Die Familien leiden unter nichtbehandelten Alten“, schrieb er. Dieses Vorhaben habe man damals nicht umsetzen können, sagt Bosch-Brasacchio. Heute erweist es sich als regelrecht visionär. Auch, dass Bosch schon so früh auf die Psychotherapie setzte, war ungewöhnlich: „Das Einfordern von Psychotherapie stand komplett im Gegensatz zu der vorherrschenden Psychiatrierealität“, sagt der Geschäftsführer des Rudolf-Sophien-Stifts, Jürgen Armbruster von der Evangelischen Gesellschaft (Eva).

Eine spezialisierte Abteilung für psychisch kranke Türken

Die Eva ist seit 2006 Träger des Rehabilitationszentrums. Sie übernahm die Trägerschaft von der Heidehofstiftung, die bis 2005 Stiftung für Bildung und Behindertenförderung hieß. Man habe als kleiner Träger relativ geringes politisches Gewicht gehabt, erklärt Alexander Urban, Geschäftsführer der Heidehofstiftung, warum man sich vom Rudolf-Sophien-Stift getrennt habe. Mit der Eva sei man immer in gutem Kontakt gewesen.

Heute hat das Rudolf-Sophien-Stift eine psychiatrische Klinik mit 16 Betten, 77 Wohnheimplätze und eine Einrichtung zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation. Die Werkstatt für psychisch behinderte Menschen hat mehrere Niederlassungen, die sich über das Stadtgebiet verteilen. Annähernd 300 psychisch kranke Menschen werden laut Eva beruflich gefördert. Die Psychiatrische Institutsambulanz des Stifts hat eine große interkulturelle Abteilung mit Spezialisierung auf psychisch kranke Türken. Anfang November wird diese räumlich erweitert.


Historie
Der Name Rudolf-Sophien-Stift geht auf den 1897 gestorbenen Unternehmer Rudolf von Knosp und seine Witwe Sophie zurück, die über eine Stiftung von zwei Millionen Mark den Bau eines „Heims für Wiedergenesene“ im Stuttgarter Süden ermöglichten. Das Stift wurde aber erst 1914 eingeweiht – sieben Jahre nach Sophie von Knosps Tod. Von 1919 an war es ein „Erholungsheim für den bürgerlichen Mittelstand“.

Nachkriegszeit
1945 bezog die Medizinische Klinik des Cannstatter Krankenhauses das Rudolf-Sophien-Stift. Das Krankenhaus blieb an dem Standort bis 1970.

Fachtagung
Anlässlich des Jubiläums gibt es Donnerstag und Freitag eine Fachtagung über 40 Jahre gemeindepsychiatrische Praxis. Der emeritierte Schweizer Psychiatrieprofessor Luc Ciompi spricht über den Fortschritt in der Sozialpsychiatrie. Auch eine Vertreterin der Psychiatrieerfahrenen zählt zu den Rednern.