Die Gedok zeigt zu den französischen Wochen Werke von Marianne Mispelaëre. Es geht der französischen Künstlerin um Kommunikation und um die Grenzen der Sprache.

Stuttgart-Nord - Die Frau unter der Niquab formt ihre Finger zum Peace-Zeichen. Männer überkreuzen ihre Unterarme über den Köpfen, ballen die Fäuste. Farbige recken die Arme in die Luft, als ob sie sich ergeben wollten. Schuhe werden in den Nachthimmel gestreckt. Bilder über Bilder, die bekannt erscheinen. Alle sind durch die Medien gegangen, von vielen Orten der Welt aus, haben mal Hoffnung, mal Angst ausgelöst – der arabische Frühling auf dem Tahrir-Platz in Kairo, Wahlproteste in Korea, Straßenmärsche in den USA, um die Polizeigewalt gegen Schwarze anzuprangern. Die Künstlerin Marianne Mispelaëre hat die Motive aus der Flut an Medien im Netz großformatig ausgedruckt und neben- und aufeinander an die Wand der Gedok-Galerie gepinnt. Der Betrachter kann sich kalenderartig durchblättern.

 

„Gesten kann man verstehen, ohne die Sprache eines Landes zu sprechen“, sagt die Französin. „Aber: jede Kultur hat ihr eigenes System, dessen Konnotationen sich Außenstehenden nicht sofort erschließen.“ Im arabischen Raum sei es beispielsweise eine Beschimpfung, wenn Schuhe in die Höhe gehalten würden. „Sie haben den Dreck des Bodens berührt“, so Mispelaëre. Eine besondere Sprache!

Mehrdeutiger Titel

Und das ist ein Thema, das die Französin umtreibt. Wie wird kommuniziert, wie interpretiert, gibt es Grenzen von Sprache und wo liegen diese? Worte und Gesten können etwa in eine Gemeinschaft einschließen, eine Dazugehörigkeit vermitteln – oder sie können ausschließen. Und das wiederum beeinflusst Gesellschaften. „You know what I don’t tell“, „Du weißt, was ich nicht sage“, hat sie deshalb mehrdeutig ihre Schau genannt, die nun zu den Französischen Wochen bis Ende Oktober stattfindet. Deren Grundstock wurde gelegt während eines Arbeitsstipendiums bei der Gedok innerhalb eines Austausches der Partnerstädte Stuttgart und Straßburg.

Ein ideales Spielfeld für die Künstlerin, so an der Schnittstelle verschiedener Länder, Ausdrucksweisen, Identitäten. Alle Menschen sind einzigartig, betont sie. Es gibt nur wenige Dinge, die diese Tatsache äußerlich so bewusst machen, etwa die Iris oder Fingerabdrücke. Behörden nutzen sie daher zur Registrierung. Und genau diese Einzigartigkeit der Identität geben wiederum Manche auf – für eine neue Heimat. „Flüchtlinge, die durch den Tunnel nach Großbritannien wollten, haben sich die Fingerkuppen verbrannt, damit sie nicht identifiziert werden können“, beschreibt Mispelaëre. Sie hat ihre eigenen Fingerabdrücke auf einem Papier so oft mit Strichen übersät, dass sie für Zöllner unlesbar wären – unter Glas konserviert und archiviert.

Ein endloser Prozess

Aufgezeichnet hat sie auch Gespräche, mit Tusche auf langen Papierbahnen. Die Zeichnungen zeigen Konversation gänzlich losgelöst von Inhalten. Enervierte, konzentrierte Striche: Hier beginnt ein Satz, dort der des Gegenübers, mal kurz, mal lang, wie die Frequenzen in der Tontechnik, nur jenseits technischer Kategorien wie Tonstufe oder Lautstärke. Ein Anfangen und Enden, das wieder in neuem Anfangen mündet. Kommunikation als nicht endender Prozess, in dem jede Handlung – und sei sie noch so klein – Konsequenzen hat. Wie in dem Video, in dem sie Papier per Pinsel mit Wasser benetzt, und mal rechts, mal links auf den Stapel legt.

In ihren Werken bewegt sich Marianne Mispelaëre in dem weiten Feld der Begriffe, Gesten, Vorstellungen zwischen Verallgemeinerungen und Individualität. Letztlich geht es auch um die Frage nach der Wahrheit. Dabei geben ihre visuellen Experimente keine Antworten oder Definitionen. Sie sind vor allem eines, Denkanstöße.