Der angebliche Plan Nordkoreas, vier Raketen in Richtung des US-Außengebiets Guam abzufeuern, bringt die USA unter Zugzwang. Sollen auch sie in einem solchen Fall ihre Raketenabwehr zum Einsatz bringen? Das würde erhebliche Risiken bergen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Seoul/Washington - Bisher ist die Auseinandersetzung zwischen den USA und Nordkorea ein Krieg der Worte. Doch wenn Pjöngjang seine Drohung wahr machen und tatsächlich Raketen auf das amerikanische Außengebiet Guam abfeuern sollte, wäre eine völlig neue Stufe der Eskalation erreicht. Auf dem US-Inselterritorium unterhält Washington eine große Luftwaffenbasis und ein Raketenabwehrsystem. Die USA müssten rasch reagieren und entscheiden, ob sie die Raketen aus Nordkorea mit ihrem milliardenschweren Abwehrprogramm abschießen. Aber sollten sie das tun? Und könnten sie das überhaupt?

 

US-Präsident Donald Trump drohte am Freitagnachmittag auf Twitter Nordkorea unmissverständlich: „Militärische Lösungen sind nun vollständig vorbereitet, geladen und entsichert, sollte Nordkorea unklug handeln. Hoffentlich wird Kim Jong Un einen anderen Weg wählen!“

Das Szenario: Nordkorea schießt Raketen in Richtung Guam

Die staatliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA hatte am Donnerstag angekündigt, dass bis Mitte August der Einsatzplan stehen solle, um vier Mittelstreckenraketen vom Typ Hwasong-12 über Japan hinweg auf Guam abzufeuern. „Eine solche Attacke“ ziehe man „ernsthaft in Erwägung“, hieß es. Die Raketen sollten demnach 30 bis 40 Kilometer vor dem Archipel im Meer niedergehen.

Experten in Südkorea warnen, die USA würden jeden Raketenabschuss in Richtung ihres Hoheitsgebietes als Provokation werten, selbst wenn Nordkorea den Start nur als Test deklarieren würde. Was würde in einem solchen Fall geschehen? Und wie könnten die ersten Minuten nach einem nordkoreanischen Raketenbeschuss ablaufen?

Was wäre, wenn der Abschuss gelingt?

Nordkorea würden wichtige Flugdaten für sein Raketenprogramm verloren gehen, wenn die Geschosse mitten im Flug abgeschossen werden. Wenn die USA die Raketen problemlos abfangen könnten, würde Staatschef Kim Jong Un möglicherweise zwei Mal darüber nachdenken, bevor er einen weiteren Versuch wagt. Außerdem hätte ein Abfangen der Raketen über dem offenen Meer den Vorteil, dass es im Grunde kein direkter Angriff auf Nordkorea wäre, auch wenn das Pjöngjang natürlich anders sehen könnte.

Es gäbe wieder etwas mehr Raum für Deeskalation und Diplomatie, als wenn die USA unmittelbar einen Präventivschlag gegen Militäreinrichtungen oder Abschussrampen auf dem nordkoreanischen Festland starten würden. Doch mit Sicherheit würde die Kriegsrhetorik danach nicht so schnell aufhören. Außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass Nordkorea – oder auch China oder Moskau – den Abschuss der Raketen als Angriff ansehen würden. In diesem Fall wäre eine echte militärische Auseinandersetzung nicht mehr undenkbar.

Was wäre, wenn die US-Raketenabwehr versagt?

Wenn es dem amerikanischen Abwehrprogramm allerdings nicht gelänge, alle vier angedrohten Raketen abzufangen, wäre das nicht nur eine Demütigung für die USA, es würde auch die Stellung Washingtons in der Region schwächen. Die USA haben Milliarden in ihre Raketenabwehr gepumpt und Teile der Technologie an ihre Verbündeten verkauft, etwa mit dem hochmodernen THAAD-System für Südkorea. Doch unter realen Bedingungen fehlen die Erfahrungswerte.

Um Raketen aus Nordkorea abzufangen, müssten die USA von Schiffen im Japanischen Meer SM-3 Abfangraketen abfeuern und dann noch von Guam aus mit MIM-104 Patriot-Raketen jene abschießen, die möglicherweise durchgekommen sind. Experten bezweifeln, dass es den USA gelingen würde, eine volle Salve aus vier Raketen abzufangen.

In einem solchen Fall würde nicht nur Nordkorea seinen militärischen Erfolg bejubeln und das Raketenprogramm noch weiter vorantreiben. Auch US-Verbündete in der Region wie Südkorea und Japan wären mit Sicherheit beunruhigt, dass die USA sie nicht ausreichend beschützen können, und würden möglicherweise selbst atomar aufrüsten.

Was wäre, wenn Nordkorea Atomwaffen einsetzt?

Mit der Hwasong-14 verfügt Nordkorea über eine ballistische Interkontinentalrakete, die 5500 Kilometer weit fliegen soll. Experten haben errechnet, dass die Hwasong-14 bei einer weniger steilen Flugbahn bis zu 6800 Kilometer weit fliegen und damit das US-Festland erreichen könnte. Ob das nordkoreanische Militär bereits in der Lage ist, sie mit einer Atombombe zu bestücken, ist unklar.

US-Präsident Donald Trump ist in Personalunion auch „Commander in Chief“, Oberkommandierender der US-Streitkräfte und damit er einzige, der den Einsatz von Atomwaffen anordnen kann. „In der Nuklearfrage gibt es ein klar geregeltes Prozedere. Es ist dazu entworfen worden, im Zweifel schnell und effizient reagieren zu können“, sagte der amerikanische Sicherheitsexperte Bruce Blair, ein Fachmann für Nuklearfragen an der US-Eliteuniversität Princeton, im Januar in einem „Spiegel“-Interview. „Gibt der Präsident sein Okay, geht alles seinen Gang. Die Kommandozentrale schickt einen kurzen Startbefehl, der praktisch zeitgleich an den jeweiligen Raketenstandorten ankommt. Dann werden die Waffen innerhalb von einer Minute startklar gemacht.“

Wie könnten die USA auf einen solchen Angriff reagieren?

Wo auch immer Donald Trump sich gerade befindet, stets ist der Atomkoffer mit den Nuklearcodes („Nuclear Football“) griffbereit in seiner Nähe. Dieser Koffer ist eine mobile Kommandozentrale, mit deren Hilfe der Präsident eine ortsunabhängige und abhörsichere Verbindung zu den wichtigsten Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates aufbauen kann.

In ihm befinden sich – neben einem abhörsicheren Telefon – das „Black Book“ (das schwarze Buch mit allen nuklearen und nicht-nuklearen Angriffsplänen ) sowie die „Emergency Action Messages“ (EAM) und „Go Codes“. Es handelt sich dabei um die Angriffscodes, mit denen die US-Nuklearwaffen für bestimmte Optionen und Ziele scharf gemacht werden.

Sollte US-Territorium tatsächlich mit Atomraketen angegriffen werden, hätte der Präsident nur wenige Minuten Zeit, um zu reagieren. Donald Trump würde sich zusammen mit dem für den Nuklearkoffer zuständigen Adjutanten zurückziehen, um den „Nuclear Football“ zu öffnen. Dann würde der Offizier eine Telefonkonferenz mit Verteidigungsminister James Mattis und General Joseph Francis Dunford, dem Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, starten.

Allerdings darf nur der Präsident den Einsatz von Nuklearwaffen anordnen. Für den Ausführungsbefehl bedarf es – gemäß der Zwei-Mann-Regelung der Nationalen Kommandobehörde („National Command Authority“) – zusätzlich der Zustimmung von Verteidigungsminister Mattis. Die ganze Prozedur dauert Sicherheitsexperten Bruce Blair zufolge im Notfall „maximal sechs Minuten“.