Die Bundesregierung will hasserfüllte Kommentare auf Facebook mit einem Gesetz bekämpfen. Die Grünen gehen das Thema lieber selbst an: Marcel Roth aus Stuttgart gehört zum Team der „Netzfeuerwehr“, das Hasspostings einzudämmen versucht.

Stuttgart - Egal ob „Gigantischer XXL SHOPPING HAUL & seehr krasse Info“, „dm HAUL + riesige Verlosung“ oder „SOMMER HAUL 2017“: Einkaufstüten auszupacken und dabei Produkte anzupreisen, gehört zur Lieblingsbeschäftigung vieler Youtuber.

 

Marcel Roth aus Stuttgart findet das dämlich. Der 24-Jährige ist Sprecher der Grünen Jugend Baden-Württemberg – und hat mit einer Parteikollegin ein Video gedreht, in dem er das Format des „Shopping Hauls“ aufs Korn nimmt. In ihrem „Wahlkampf Haul“ packen Roth und seine Kollegin ebenfalls eine Box aus. Aber statt Klamotten befinden sich darin Postkarten mit politischen Slogans wie „Sex, Drugs and Sustainability“ oder „Außen grün, innen bunt“.

„Wegen euch wurde die Abtreibung eingeführt“

Mit dem, was dann geschah, hatte Roth nicht gerechnet: Auf der Facebook-Seite der Grünen Jugend machten diejenigen, denen das Video nicht gefiel, ihrem Ärger mit Hasspostings Luft. Roth erinnert sich an Sprüche wie „Wegen euch wurde die Abtreibung eingeführt“, und an den Aufruf, dass er und seine Kollegin erhängt gehörten.

Gegen manche Kommentare erstattete Roth nach eigenen Angaben Anzeige. „Aber abgesehen davon haben wir es laufen lassen“, sagt Roth heute. „Was will man machen?“ Bei solchen Auseinandersetzungen im Netz, so scheint es, dominiert am Ende die Gruppe mit mehr Zeit und Motivation, ihre Meinung in Kommentaren kundzutun. Zudem hat Roth die Vermutung, dass manche der Kommentare nicht von realen Nutzern stammten, sondern organisierte Gruppen dahinter stecken. „Man kann nichts machen“, sagt Roth.

Hilft gegen Hetze ein Gesetz?

Kann man doch, findet Bundesjustizminister Heiko Maas. Er will noch vor der Sommerpause ein Gesetz durchbringen, das Hass und Fake News im Netz eindämmen soll.

Im Wesentlichen sieht das Gesetz mit dem sperrigen Titel „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ vor, dass die Betreiber von sozialen Netzwerken „offensichtlich rechtswidrige Inhalte“ bei einer Beschwerde innerhalb von 24 Stunden und „jeden rechtswidrigen Inhalt“ innerhalb von einer Woche sperren. Zudem werden die Netzwerke verpflichtet, ein transparentes System zum Umgang mit Beschwerden zu schaffen und jedes Quartal einen Bericht dazu zu veröffentlichen.

Darin soll zum Beispiel stehen, wie viele Beschwerden es gab, wie damit umgegangen wurde und in wievielen Fällen der Inhalt gelöscht wurde. Bei Verstößen müssen Betreiber wie Facebook mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu fünf Millionen Euro rechnen. Das Gesetz gilt nur für soziale Netzwerke mit mindestens zwei Millionen Nutzern.

Warum der Plan hinter dem Gesetz nach hinten losgehen könnte

Marcel Roth war selbst von Hasskommentaren betroffen. Aber er bezweifelt, ob sich das Problem mit einem neuen Gesetz lösen lässt. „Wenn es zum Beispiel um rassistische Einstellungen geht, sind Facebook-Postings ein Symptom – und nicht die Ursache“, sagt Roth. Mit seiner Skepsis ist er nicht allein. Gegen das geplante Gesetz hat sich breiter Widerstand geformt.

Unter anderem Wissenschaftler, der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, der Europarat und der Chef der Länder-Justizminister, Herbert Mertin, haben Bedenken gegen das Gesetz geäußert. Bei einer Expertenanhörung im Bundestag am Montag ist das Gesetz fast durchgängig kritisch bewertet worden.

Die wichtigsten Kritikpunkte: Welche Äußerungen vom Grundrecht der Meinungsfreiheit abgedeckt werden und welche nicht – zum Beispiel, weil sie den Strafbestand der Verleumdung oder Beleidigung erfüllen – ist nicht leicht zu unterscheiden. „Was ist ‚offensichtlich rechtswidrig’ bei Beleidigung oder Verleumdung?“ sagte der Hauptgeschäftsführer des Branchenverbands Bitcom, Bernhard Rohleder, bei der Expertenanhörung im Bundestag. „Selbst Richter tun sich mit Antworten schwer und kommen oft zu überraschenden Ergebnissen - wie nicht nur die Entscheidung zum Schmähgedicht von Jan Böhmermann zeigt“, so Rohleder. Der Einzelne beurteilte Sachverhalte häufig anders als es Gerichte nach sorgfältiger Abwägung tun würden.

Gesetz könnte nach hinten losgehen

Gerade deshalb sollte die Entscheidung, wie weit die Meinungsfreiheit geht, nicht von Mitarbeitern sozialer Netzwerke gefällt werden – da die Öffentlichkeit deren Qualifikation und Arbeitsweise nicht überprüfen kann, sagt auch Lorena Jaume-Palasí. Die Wissenschaftlerin gehört zu den Gründern der Initiative AlgorithmWatch, die sich mit ethischen Auswirkungen algorithmischer Prozesse wie dem Facebook Newsfeed beschäftigt.

„Es gibt keine Möglichkeit der Beaufsichtigung“, sagt Jaume-Palasí über das Löschen von Inhalten durch die Netzwerke selbst, wie es in dem geplanten Gesetz vorgesehen ist. „Man kann hinterher nicht sehen, was gelöscht wurde.“

Viele Kritiker befürchten, dass Netzwerke wie Facebook zukünftig Kommentare und Postings präventiv löschen könnten, um Bußgeldstrafen zu entgehen. Der Tenor: Das Gesetz könnte das Gegenteil von dem erreichen, was es bezwecken soll – und nicht zu mehr, sondern zu weniger Meinungsfreiheit im Netz führen.

Löschen von Fake News könnte Verschwörungstheorien befeuern

Auch der Kampf gegen Fake News wird in der Begründung der Bundesregierung zu dem Gesetz genannt: Nach den Erfahrungen aus dem US-Wahlkampf habe die Bekämpfung von Fake News in sozialen Netzwerken auch in Deutschland „hohe Priorität gewonnen“, heißt es in dem Text.

Doch auch hier sehen viele Kritiker Probleme. Denn die Verbreitung falscher Informationen ist per se meist nicht strafbar – sondern wird es erst dann, wenn dabei zum Beispiel eine Person in ihrem Ruf geschädigt wird.

Ein Gutachten im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass das Löschen von Fake News bestimmte Gruppen eher noch in ihrem verschwörungstheoretischen Weltbild stärken könnte. Was in einer Demokratie gesagt werden darf, wird durch die Meinungsfreiheit bestimmt, sagt Jaume-Palasí – und nicht dadurch, ob es wahr ist oder nicht. „Wir haben in einer Demokratie das Recht auf Tratsch und Gerüchte, solange diese niemanden herabwürdigen. Damit müssen wir uns auseinandersetzen und die anstrengenden Diskussionen über verschiedene Meinungen führen. Einen anderen Weg gibt es nicht.“

„Wir wollen den Algorithmus mit realen Personen beeinflussen“

So sieht es auch Marcel Roth von den Grünen. Er ist seit einigen Monaten Teil eines Experiments, das Hetze und Falschmeldungen im Netz auf andere Art und Weise etwas entgegensetzen will: Das Rapid Response Team, auch bekannt geworden als „Netzfeuerwehr“, der Grünen.

Die Idee dahinter: In einer geschlossenen Facebook-Gruppe machen Mitglieder die Gruppe darauf aufmerksam, wenn sie einen Post oder Kommentare sehen, in denen Grüne beleidigt oder falsche Informationen über die Partei oder ihre Mitglieder verbreitet werden. Ein Beispiel: Wenige Wochen vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hatte ein CDU-Politiker auf Facebook ein Foto der Grünen-Politikerin Sylvia Löhrmann gepostet. Darauf ist zu sehen, wie sie vor einem Wahlkampf-Termin aus einem schwarzen Audi in ein umweltfreundliches Hybrid-Auto umsteigt. „Hoch lebe die grüne Doppelmoral!“, kommentierte der CDU-Mann Thomas Eusterfeldhaus.

Erste Erfolge der Netzfeuerwehr

Marcel Roth sieht das ganz anders: „Für den Wahlkampf dürfen keine staatlichen Mittel genutzt werden – und damit auch keine Fahrten im Dienstwagen. Löhrmann hat sich also vorbildlich verhalten.“ Die Netzfeuerwehr der Grünen ging mit dem Hashtag #löhrmannsteigtum in die Offensive und erklärte in Kommentaren und Posts auf Facebook und Twitter, warum Löhrmann das Auto gewechselt hat.

Teilweise würde in der Rapid Response Gruppe auch dazu aufgerufen, bestimmte Postings zu liken, sagt Roth. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit dass sie anderen Nutzern angezeigt werden. „Weil man die Algorithmen nicht so gut kennt, wie man es gerne hätte, muss man sie mit realen Personen beeinflussen“, sagt Roth.

Auch die anderen Parteien experimentieren derzeit mit ähnlichen Gruppen. Die FDP erklärt auf Anfrage, dass es bei Landtagswahlen in diesem Jahr Rapid Response Teams gegeben habe. Basierend auf dieser Erfahrung stelle die Partei derzeit ein Team von etwa 40 Leuten für die Arbeit im Netz auf. Die Linke gibt an, dass die Redakteure der Social-Media-Kanäle sich über Whatsapp und Facebook austauschten, um im Falle von Fake News schnell zu reagieren. Die SPD, die CDU und die AfD reagierten auf unsere Anfrage nicht.

Insgesamt, sagt Marcel Roth, hat ihn die Mitgliedschaft in der Netzfeuerwehr optimistischer gestimmt, was die Gesprächsatmosphäre im Netz angeht. Früher habe er oft die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und immer wieder alleine versucht, beleidigende Postings zu kommentieren. „Wenn man sich organisiert, schafft man es eher“, sagt Roth. Generell sieht er den Kampf gegen Hetze, Rassismus und Beleidigungen im Netz aber als Aufgabe aller. „Die demokratische Mehrheit muss online zeigen, dass sie da ist.“ Die Rapid Response Gruppe sieht Roth als möglichen Gegenentwurf zu dem geplanten Gesetz.

Ob das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ im Bundestag eine Mehrheit findet, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.