Hörgeschädigte können nicht einfach den Notruf 112 wählen. Derzeit werden im Land zeitgemäße Alternativen geprüft – eine App könnte Abhilfe schaffen, aber die technische Abstimmung ist kompliziert.

Stuttgart - Was tun, wenn man als hörbehinderter Mensch in eine Notlage kommt? In eine Situation, in der Nichtbehinderte zum Telefon oder zum Handy greifen und 110 oder 112 wählen? In Baden-Württemberg leben laut Statistischem Landesamt mehr als 40 000 Menschen, die das nicht können, weil sie sich am Telefon nicht verständlich machen können oder weil sie ihr Gegenüber nicht hören. Für sie ist das Notruf-Fax geschaffen worden. Sie füllen einen speziell entwickelten Vordruck aus und schicken ihn per Fax an die Rufnummer 110 oder 112; beide kommen an der zuständigen Leitstelle an.

 

Bei allen 112-Notrufabfragestellen „und bei allen durch die Polizei des Landes Baden-Württemberg für die nationale Notrufnummer 110 betriebenen Notrufabfragestellen“ können solche Notruf-Faxe empfangen werden, schreibt der Innenminister Reinhold Gall (SPD) auf einen Berichtsantrag des CDU-Landtagsabgeordneten Werner Raab. „Damit ist sichergestellt, dass Menschen mit Sprach- und Hörbehinderung im Notfall flächendeckend in allen baden-württembergischen Stadt-und Landkreisen ein Notfall-Fax an die zuständige Leitstelle von Feuerwehr und Rettungsdienst beziehungsweise der Polizei absenden können“, teilt Gall mit. „Ein Notruf-Fax wird analog dem Eingang eines Sprachnotrufs unmittelbar entgegengenommen und kompetent bearbeitet.“

Die Leitstellen werden mit Faxen nicht gerade überschwemmt

Freilich muss ein Betroffener zunächst eine faxfähiges Gerät besitzen und dieses in seiner Notlage auch noch bedienen können. Wie auch immer: die Leitstellen im Land werden mit solchen Notruf-Faxen nicht gerade überschwemmt. Wie das Innenministerium auf Nachfrage mitteilte, gehen aktuell beim Polizeipräsidium Stuttgart „maximal ein bis zwei Notruffaxe pro Monat ein“. In den Jahren 2006 und 2007 waren es drei respektive zwei Faxe im ganzen Jahr. Das Polizeipräsidium Stuttgart ist mit etwa 280 000 Notrufen im Jahr das Führungs- und Lagezentrum mit landesweit der größten Zahl an Notrufen. Ganz ähnlich, so das Innenministerium, ist es bei der Integrierten Leitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst in Stuttgart. Dort seien 2014 etwa 240 000 Notrufe eingegangen, darunter ein einziges Fax.

Um es Betroffenen leichter zu machen, einen Notruf abzusetzen, hat man sich beim Land Gedanken gemacht und die Idee einer SMS-Nothilfe entwickelt. Per Handy soll eine Kurzmitteilung an die Polizei oder eine Rettungsleitstelle geschickt werden können. In diesem Jahr soll die Idee umgesetzt werden. Im Innenressort ist man sich freilich der Schwierigkeiten dieses Unterfangens bewusst. Die Kommunikation über SMS erfolgt nicht in Echtzeit wie bei einem Telefonat. „Bei der Übermittlung einer SMS kann es zu den allgemein bekannten systemtechnisch bedingten Verzögerungen kommen“, sagt der Innenminister.

Gehörlosenverband: Die Not-SMS ist oft kompliziert

Der Landesverband der Gehörlosen Baden-Württemberg macht auf weitere Schwierigkeiten der Not-SMS aufmerksam. Man könne sie nicht an die 110 oder die 112 senden. Vielmehr müssten kompliziertere und teilweise je nach Netzbetreiber verschiedene Nummern eingegeben werden. Wo das Netz schwach ist, könne man überhaupt keine SMS absetzen.

„Die SMS-Nothilfe ist aus diesen Gründen bewusst als Ergänzung und nicht als Ersatz für das Notruf-Fax vorgesehen“, schreibt auch Gall. Das Notruf-Fax sei „nach wie vor vorrangig einzusetzen“. Der Gehörlosen-Landesverband hält die SMS-Nothilfe für „nicht adäquat“ und keinen „zeitgemäßen Lösungsansatz“. „Was wir brauchen, ist ein alltagstauglicher, barrierefreier Notruf“, teilt der Verband mit. Den sehen die Gehörlosen in einer Smartphone-App, die der Verband zusammen mit dem Projekt Gehoerlosennotruf.de und dem IT-Entwickler Bernot aus Konstanz entwickelt hat. Gehoerlosennotruf.de sei „ein Team von Fachleuten aus Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst und Notrufleitstellen“, Bernot IT ein Spezialist für die Entwicklung von Systemen und Anwendungen für sicherheitskritische Infrastruktur.

Eine App macht Feinabstimmungen erforderlich

Der barrierefreie Notruf, erläutert Gerhard Bernot, funktioniere mit den einschlägigen Notrufnummern in allen nationalen, europäischen und weltweiten Netzen. Der Nutzer lädt sich die App auf sein Smartphone. Darin sind Notrufmeldungen bereits vorgefertigt. Im Notfall muss der Nutzer nur ein Szenario auswählen, also zum Beispiel, ob es sich um einen Brand, einen Unfall, einen Einbruch oder um medizinische Schwierigkeiten handelt. Dann muss er noch fünf W-Fragen beantworten: Wer? Wann? Wo? Wie viele? Was genau?

Schickt er den Notruf los, meldet sich bei der Leitstelle eine elektronische Stimme und erklärt dem Diensthabenden das Problem – im Urlaub, zum Beispiel in Italien auch auf italienisch. Die Entwickler wollen nun bei den Landesbehörden darauf hinwirken, dass das System landesweit freigegeben wird.

Dort sieht man ein Problem darin, dass es in Deutschland mehr als 500 Notrufabfragestellen für die 112 und die 110 gibt, und jede neue Technologie in sämtlichen Stellen angenommen können werden muss. Das erfordere gewisse Feinabstimmungen, die noch nicht abgeschlossen seien.

Und im Jahr 2018 kann womöglich sowieso wieder alles anders sein, wenn die Telekom eine neue Technik einführt, die neben Telefonaten oder Faxen auch den leichteren Empfang von Daten ermöglicht.