Wieviel Technisierung verträgt der homo sapiens? Über technischen Fortschritt ist schon immer geklagt worden. Die Frage ist nur, ob zu Recht.

Stuttgart - Wenn gefragt wird, "wie viel Technisierung der Homo sapiens vertrage", wie dieser Tage bei einem Diskussionsabend in der Stuttgarter Stadtbibliothek, dann lassen die skeptischen Einschätzungen nicht lange auf sich warten. Mit Handys und Internet habe sich eine Plapperkultur entwickelt, klagt ein älterer Herr aus dem Publikum. "Es wird unentwegt kommuniziert", schimpft er weiter, und man wähle längst nicht mehr die wichtigsten Gedanken für die Kommunikation aus, sondern nehme einfach alle.

 

Der Leiter des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart, der die Diskussionsrunde moderiert, wirkt ebenfalls unzufrieden: Er bevorzuge die Face-to-face-Kommunikation, gesteht Walter Göbel. Doch die Wissenschaft weiß: bei jeder Einführung einer neuen Technologie wird geklagt. Davor war selbst Platon nicht gefeit. Der große Philosoph habe gegen die Einführung der Schrift protestiert, erzählt Göbel: Der Geist verlottere, wenn man sich alles notiere, und obendrein könne man mit einem Text nicht reden.

So findet sich an diesem Abend in der Stadtbibliothek für jede unglückliche Entwicklung der neuen Medien eine historische Entsprechung: Alles schon mal da gewesen. Geht nicht die Wahrhaftigkeit verloren, wenn man sich im Internet digital aufgehübscht präsentiert, fragt zum Beispiel eine Frau aus dem Publikum? Ach, schon in den Liebesbriefen und bei Frauenporträts der vergangenen Jahrhunderte sei es um mehr als nur die wahrheitsgetreue Abbildung gegangen, entgegnet die Münchner Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken auf dem Podium.

"Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde"

Und ihr Gesprächspartner, der Berliner Medienwissenschaftler Stefan Münker, rät zu mehr Gelassenheit: Die Menschen würden die für den Umgang mit neuen Medien nötigen Kulturtechniken nach und nach lernen. Schon heute erkenne er Fortschritte: Jugendliche würden stärker aufpassen, welche Partybilder sie freischalten, und Bahnfahrer würden seltener nervige Telefonate führen.

Nicht nur die Klagen werden an diesem Abend relativiert, auch die übertriebenen Hoffnungen, die manche mit neuen Technologien verknüpfen. Man denke nur an die euphorische "Unabhängigkeitserklärung" für den Cyberspace, die John Perry Barlow 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos verbreitete. "Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde und wächst durch unsere kollektiven Handlungen", schrieb Barlow an die Adresse der Regierungen.

Inzwischen haben große Unternehmen wie Facebook und Google umzäunte Bereiche im Internet eingerichtet und besorgte Nutzer rufen nach schärferen Regeln zum Schutz ihrer Privatsphäre. Alles halb so schlimm, könnte also das Fazit lauten - wenn man auch mit Wehmut an die vergangenen Zeiten denkt, in denen sich Menschen noch besucht und beim Kaffee miteinander gesprochen haben. Doch das Thema wäre nur halb so spannend, wenn nicht viele den Eindruck hätten, wir durchlebten gerade eine Phase besonders starker Umbrüche. 

Ein ständiges Beobachten und Reagieren

Das Internet macht es deutlich: Man muss viel Zeit aufwenden, nur um am Ball zu bleiben. Und die Möglichkeiten, die es zur Selbstdarstellung und Kommunikation bietet, sind beispiellos weitreichend. Mit einem Heimvideo kann man berühmt werden oder Tausende Hassmails auf sich ziehen. Ist Gelassenheit wirklich der beste Ratgeber, wenn es um so tiefgreifende Änderungen im Leben geht?

Auf diese Frage bieten zwei Umweltwissenschaftler von der Universität Arizona eine überraschende Antwort: Sie empfehlen ein "Durchwurschteln", ein ständiges Beobachten und Reagieren. In ihrem Buch "The Techno-Human Condition" (Verlag MIT Press, nur auf Englisch erschienen) argumentieren Braden Allenby und Daniel Sarewitz, dass es kaum möglich sei, die Auswirkungen einer neuen Technologie vollständig abzuschätzen. Daher könne man sich nicht auf alles vorbereiten.

Man kann zwar sicher vorhersagen, dass das Internet den Zugang zu Informationen erleichtert. Man kann auch ahnen, dass dies in repressiven Staaten als Gefahr angesehen und in freien Staaten zu einem Überangebot an Informationen führen wird. Doch wer hätte in den 90er Jahren vorhergesagt, dass sich die leichte Kopierbarkeit von Texten zum Problem für Schulen und Universitäten auswachsen wird? Und wer hätte geahnt, dass sich der Austausch von Informationen auf wenige Plattformen konzentrieren wird, die mit der Analyse der persönlichen Daten Geld verdienen?

Die neuen Technologien erfordern neue Antworten

Allenby und Sarewitz empfehlen daher, auf neue Entwicklungen zu achten und bei Bedarf gegenzusteuern. Eine Grundsatzentscheidung könne kaum alle Eventualitäten berücksichtigen. Aus diesem Grund rechnen sie auch nicht mit einem internationalen Abkommen zum Klimaschutz, über das die Vereinten Nationen seit Jahren verhandeln.

Die Lösung "mehr erneuerbare Energien" scheint nahezuliegen, doch die Klimagipfel zeigen, dass es auch um andere Themen geht: das erwachende Selbstbewusstsein der Entwicklungsländer, ihr fehlendes technisches Knowhow, die Vergemeinschaftung der Umweltschäden sowie das trotzige Festhalten vieler Menschen an ihrem Lebensstandard. Sie machen das Problem so verzwickt, dass selbst die aufrüttelnden Berichte des Weltklimarats nicht ausreichen, um die 194 Staaten zum Kompromiss zu zwingen. Doch dieses Programm verlangt dem Menschen viel Selbstdisziplin ab, denn er muss ständig auf der Hut sein und darf sich nie auf Verlässliches stützen.

Beim Gedanken an eine nicht enden wollende Auseinandersetzung über immer neue Wendungen in der Entwicklung der neuen Medien wird man wohl laut seufzen dürfen. Vielleicht ist Gelassenheit doch kein schlechter Ratgeber, bevor man sich auf die Sisyphusarbeit einlässt. Nur woher sollte man diese Gelassenheit nehmen? Aus der Hoffnung, es sei alles schon mal da gewesen und man könne sich an früheren Entscheidungen orientieren, wird sie nicht kommen können. Denn die neuen Technologien erfordern wirklich neue Antworten.

Wie Technologien alles ändern: Das Beispiel der Eisenbahn

Ziele Dass die Eisenbahn dazu gedacht ist, Personen und Güter zu transportieren, ist klar. Auch die militärische Nutzung zum schnellen Verlagern der Truppen war in den Anfangsjahren von großer Bedeutung. Doch die Eisenbahn hat auch wirtschaftliche und nicht zuletzt soziale Folgen gehabt, die sich kaum vorhersagen ließen.

Folgen Einige Menschen befürchteten, dass die bei hoher Geschwindigkeit vorbeiziehende Landschaft dem Gehirn Schwierigkeiten bereiten würde. Tatsächlich änderte sich anderes: die Uhren der Städte mussten synchronisiert werden und manche Orte waren auf einmal gar nicht mehr so weit voneinander entfernt.

Würdigung Heinrich Heine spricht 1843 von einem "unheimlichen Grauen", denn es geschehe etwas mit unabsehbaren Folgen. "Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet", schreibt er in Paris und malt sich ein europäisches Bahnnetz aus: "Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt."