Die Regierung sucht Bausteine für die Gemeinschaftsschule. In Oberschwaben wird sie fündig - und zwar an der Bickebergschule in Villingen.  

Villingen - Die grün-rote Landesregierung kann von Oberschwaben lernen. Mit ihren Schulreformen betritt sie keineswegs vollkommenes Neuland, wie eine Reise in die als tiefschwarz deklarierte Region beweist. In Oberschwaben entdeckt man Schulen, die belegen, wer wollte, konnte auch unter schwarz-gelb pädagogisch innovativ werden. Früher wurden sie kritisch beäugt, berichten die Schulleiter, heute beehrt sie die SPD-Kultusministerin mit einem Besuch. Sie werden präsentiert als leuchtende Beispiele, deren Konzepte den künftigen Gemeinschaftsschulen zur Nachahmung empfohlen werden.

 

Noch ist nicht bekannt, wer zu den mutmaßlich 30 ausgewählten Starterschulen gehört, die im September 2012 das grün-rote Prestigeobjekt Gemeinschaftsschule in die Tat umsetzen sollen. Das stört Hans-Joachim Bürner überhaupt nicht. Der Rektor der Bickebergschule in Villingen hat das Namensschild seiner Schule bereits im Vorgriff um den Schriftzug "bald Gemeinschaftsschule" ergänzt.

Der Mann kann es kaum erwarten, so beseelt ist er von dem Konzept, das seine Schule seit Jahren praktiziert, das aber in einer Gemeinschaftsschule ideal umgesetzt werden könnte. Die Begeisterung steckt an, auch Rupert Kubon, der Oberbürgermeister von Villingen-Schwenningen schwärmt beim Besuch seiner Parteifreundin, der Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD), "wir können bald von allen Fesseln befreit gute Schule machen".

Selbständiges Arbeiten ist selbstverständlich

Das machen sie schon jetzt in der Bickeberg Grund- und Werkrealschule, davon ist der Rektor überzeugt, nur "jetzt legen sie uns aus Stuttgart keine Steine mehr in den Weg", wie er sagt. In der Bickebergschule schwören sie auf selbstorganisiertes Lernen und auf die freie Stillarbeit. Es herrscht eine überraschende Disziplin und große Ruhe in der Bickebergschule. Im Freizeitraum stehen drei Kicker und ein Billardtisch - vollkommen unbeachtet. Steven (13) und Petrit (14) sitzen stattdessen am Tisch über ihren Englischbüchern und versuchen Fragen zum Text zu beantworten.

Das ist Partnerarbeit Englisch, das machen sie seit 25 Minuten und das werden sie noch 15 Minuten tun. Erst dann ist Pause, dann werden sie vielleicht kickern. Das braucht ihnen kein Lehrer zu sagen. Auch in der zehnten Klasse ist von einem Lehrer nichts zu sehen. Am Pult steht eine Schülerin und stellt ein Buch vor. Man ist es gewohnt selbstständig zu arbeiten. Wer nicht weiterweiß, fragt den Nebensitzer, dann erst wendet man sich an den Lehrer. "Man versteht's oft besser, wenn's ein Mitschüler erklärt, die Lehrer benutzen manchmal Wörter, die man gar nicht kennt", findet eine Schülerin.

Es gibt leistungsdifferenzierte Wochenpläne, die jeder Schüler so abarbeitet, wie er kann. Manchmal geht der Lehrer mit kleineren Gruppen raus. Pädagogische Mitarbeiter sind wichtige Begleiter beim selbstorganisierten Lernen. "Ohne sie hätten wir überhaupt keine Chance", unterstreicht der Rektor ihre Rolle. "Niemand wird aufgehalten", sagt ein Zehntklässler "die die weiter sind, können schneller weitermachen". Die Lehrerin stellt fest, "die Kinder gehen zufriedener in die Schule".

"Lernen ist wichtiger als Unterricht"

Während sie es in Villingen nicht erwarten können, Gemeinschaftsschule zu werden, winkt der Rektor des Gymnasiums in Wilhelmsdorf (Kreis Ravensburg) ab. "Es verbietet sich für uns, Gemeinschaftsschule zu werden", konstatiert Johannes Baumann. In seine Schule schicken die Eltern ihre Kinder, weil sie ein Gymnasium wollen. Doch haben sie in Wilhelmsdorf schon 2004 ein Konzept eingeführt, dessen Bausteine sich auch für Gemeinschaftsschulen eignen. Sie nennen es G8 plus und kennen keine Klagen wegen Überlastung der Schüler. Das Plus steht nicht etwa für längere Schulzeit, sondern für den pädagogischen Mehrwert.

Sie haben den Fachunterricht gekürzt und pro Klasse etwa sieben Stunden pro Woche gewonnen, die sie für Methodenkurse, Konversationskurse in den Fremdsprachen und vor allem für ein freies Kursangebot nutzen. Eigenständiges Lernen ist auch hier das erklärte Ziel, das in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erreicht werden darf. 200 Angebote gibt es im Jahr, am Ende bekommen die Schüler ein Zusatzblatt über ihre Kurse und ihr so erarbeitetes eigenes Profil.

Die Lehrer mussten umdenken, sagt Baumann: "Lernen ist wichtiger als Unterricht." Viel gelernt wird beispielsweise in der Mathewerkstatt. Dorthin kommen Schüler der Mittelstufe mit Schwierigkeiten in Mathe gerne, um sich von den Schülermentoren helfen zu lassen. Sie werden jedoch nicht bei der Hand genommen, sondern sollen sich die Regeln selbst erarbeiten. "Wir wollen den Schülern Spaß an Mathe vermitteln", sagt Bettina Lehmann, die im Frühjahr Abi macht und sich jetzt als Schülermentorin betätigt. Bis die neue Art des Unterrichts in die Fläche geht, ist nach Baumanns Einschätzung noch einiges zu tun. "Die Lehrerausbildung hinkt hinterher." Noch lernen die Lehramtsstudenten ihre neue Rolle nicht, findet der Rektor. "Sie müssen in Zukunft geeignete Materialien beschaffen und ihre Schüler coachen."

Das eigene Lernen verantworten

Welches Schild an der Tür hängt, ist Josef Brugger, dem Chef der Pestalozzi Grund- und Werkrealschule in Friedrichshafen, ziemlich egal. Ihm und seinen Kollegen an der Brennpunktschule geht es darum, "jeden Schüler in die Arbeitswelt einzugliedern". An der Pestalozzischule stellt man sich den Problemen, und versucht nicht sie wegzudrücken, sagt Brugger. "Das ist eine größere und komplexere Aufgabe für die Lehrer als zu unterrichten." 40 Mitarbeiter braucht er, die nicht Lehrer sind, um dem Anspruch gerecht zu werden.

In der Klasse von Brigitta Ehinger haben fast alle Schüler Konzentrationsschwierigkeiten. Auch sie sollen Selbstverantwortung lernen. Zum Beispiel für ihren Arbeitsplatz. In der Pestalozzischule hat jeder Schüler seine eigene kleine Wabe. "Hier haben sie einen festen Platz, das haben sie oft zu Hause nicht", sagt Ehinger.

Sie sollen auch das eigene Lernen verantworten. Dass der Lehrer doof ist, zählt nicht. Regelmäßig wird die Woche rekapituliert. Warum habe ich mein Ziel nicht erreicht? Vielleicht habe ich zu viel geredet, vielleicht war mir das Thema zu schwer. "Die Heterogenität wird immer größer, das erfordert individuelle Lernformen", weiß Brugger. Die Gemeinschaftsschule könnte ein Nebenprodukt daraus werden.

Gemeinschaftsschule startet im September 2012

Zeitplan Das Kultusministerium erwartet die Schulgesetzänderung für April 2012. Die Starterschulen sollen im September 2012 ihre Arbeit aufnehmen. Der Stichtag für weitere Anträge zur Einrichtung von Gemeinschaftsschulen ist im November 2012 geplant.

Voraussetzungen Basis für Anträge sind ein pädagogisches Konzept, die baulichen Voraussetzungen und eine Mindestzahl an Schülern.

Lernkultur Statt Klassen soll es in Gemeinschaftsschulen Lerngruppen geben. In keinem Fall gebe es eine Aufteilung in leistungsorientierte A-, B-, C-Kurse, betont das Kultusministerium. Erwartet wird schülerzentriertes selbstverantwortliches Lernen, Teamarbeit von Schülern und Lehrern, die Lehrer sollen sich als Lernbegleiter verstehen.