Lässt die zunehmende Bürokratrie noch genügend Zeit für Patienten? Was kann ein Hausarzt besser als ein Facharzt? Die Mediziner Birgit Schweickhardt und Heinrich Mauri im Generationengespräch.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
Seit Heinrich Mauri im Ruhestand ist, hat sich in seiner ehemaligen Stuttgarter Praxis „Hausärzte im Westen“ fast nichts geändert. Das Mobiliar ist dasselbe, auch den riesigen Gummibaum im Besprechungszimmer haben seine Nachfolgerinnen Alexandra Ickrath und Birgit Schweickhardt übernommen. Für Birgit Schweickhardt steht außer Frage, dass während des Gesprächs der große Ledersessel dem Senior zusteht.
Herr Mauri, vor einem halben Jahr hatten Sie Ihren letzten Arbeitstag. Wie fühlt sich der Besuch Ihrer alten Praxis an, in der Sie fast 30 Jahre lang gearbeitet haben?
Heinrich Mauri Ein wenig Wehmut verspüre ich schon, denn ich habe meinen Beruf immer mit Freude ausgeübt. Loszulassen ist ja nie einfach, aber ich fand den richtigen Zeitpunkt dafür. So eine Hausarztpraxis allein zu führen bedeutet Sechzig-, manchmal auch Achtzig-Stunden-Wochen. Vor zwei Jahren habe ich gemerkt, dass meine Kräfte nachlassen und ich das Pensum nicht mehr in adäquater Zeit erledigen kann.
Frau Schweickhardt, Sie haben mit Ihrer Kollegin Alexandra Ickrath die Praxis von Herrn Mauri übernommen. Zwei jüngere Ärztinnen ersetzen einen älteren Arzt. Ist das typisch für die Branche?
Die 49-jährige Birgit Schweickhardt
Birgit Schweickhardt Ja, wir sind in jeglicher Hinsicht repräsentativ. Mittlerweile sind 70 Prozent der Medizinstudenten und auch der Hausärzte weiblich. Das mag teilweise daran liegen, dass die Mädchen nachweislich besser im Abitur abschneiden und eher einen Studienplatz ergattern. Eine weitere Erklärung könnte sein, dass sich die Verdienstmöglichkeiten für Ärzte verschlechtert haben und das offenbar eher Frauen in Kauf nehmen als Männer.
Und diesen Verdienst teilen Sie sich auch noch auf.
Schweickhardt Meine Kollegin Alexandra Ickrath und ich haben beide Familie. Wir legen, wie viele Frauen und Männer in anderen Berufen auch, Wert auf die „Work-Life-Balance“. Zu zweit können wir lange Öffnungszeiten anbieten, sind aber dennoch zeitlich flexibel. Außerdem ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass zur Not der andere einspringen kann. So denken viele in unserer Generation. Der Trend geht eindeutig zur Gemeinschaftspraxis.
Mauri Früher war es üblich, dass der Hausarzt sich voll seiner Praxis widmet und die Ehefrau ihm den Rücken freihält. So war es auch bei mir: Meine Frau hat zwölf Jahre lang nicht in ihrem Beruf gearbeitet und unsere Kinder erzogen. Damit waren wir glücklich. Mein Sohn dagegen, der auch Arzt geworden ist, würde eine ausgewogene Mischung aus Arbeit und Freizeit bevorzugen – was jedoch noch nicht möglich ist, weil er sich in der Weiterbildungsphase befindet.
Haben die Patienten den Wechsel akzeptiert?
Schweickhardt Die meisten schon. Ein paar suchten sich lieber einen männlichen Hausarzt. Andere, die weiter weg wohnen, haben den Wechsel zum Anlass genommen, sich einen Arzt in ihrer Nähe zu suchen.
Ist der Hausarzt immer noch eine Autorität und Vertrauensperson , deren Ratschläge man strikt befolgt?
Schweickhardt Vertrauen ist nach wie vor die Grundlage für eine Arzt-Patienten-Beziehung. Daran wird sich auch nichts ändern.
Mauri Das gilt in besonderem Maße für die chronisch Kranken. Doch so eine Arzt-Patienten-Bindung setzt natürlich voraus, dass man sich einige Jahre lang kennt. Heutzutage kommen jedoch viele mit 30 oder 40 Jahren berufsbedingt nach Stuttgart und ziehen drei Jahre später nach Düsseldorf oder Miami. Das sind jene, die schnell mal im Internet nach dem nächsten Arzt suchen und mit dem Smartphone ihre Termine machen. Einige Ärzte stellen ja inzwischen ihren Terminplaner auf ihre Internetseite, wo sich Patienten ein passendes Zeitfenster herauspicken können. Für diese mobile Generation sind wir eher Dienstleister als Vertrauensperson.
Schweickhardt Mit dieser Generation machen wir auch die Erfahrung, dass sie immerzu funktionieren und auf Knopfdruck gesund sein will. Da heißt es dann beispielsweise: „Ich muss übermorgen in die USA fliegen und einen Vortrag halten. Bitte geben Sie mir ein Antibiotikum oder irgendwas, damit ich fit bin.“ Das zeigt, dass sich die Wertschätzung von Gesundheit verändert hat: Früher war man dankbar, gesund zu sein. Heute wird Gesundsein erwartet und als Normalzustand betrachtet.