Seltene Erkrankungen sind gar nicht so selten: Etwa drei Millionen Patienten in Deutschland leiden darunter. Allerdings handelt es sich um völlig unterschiedliche Leiden und für die Patienten kann es schwierig sein, einen Arzt zu finden, der sich mit ihrer Erkrankung auskennt. Am Tübinger Zentrum für seltene Erkrankungen werden die Patienten beraten und behandelt.

Stuttgart - Die Diagnose ist niederschmetternd: Gutartige Tumore, aber trotzdem nicht heilbar. Meist trifft diese Diagnose sehr junge Menschen: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Die Tumore bei der Neurofibromatose Typ 2 (NF2) streuen nicht in andere Organe und wachsen oft eher langsam. Doch es gibt außer der vollständigen Entfernung des Tumors keine Therapie, die das Wachstum endgültig aufhalten könnte, weder Bestrahlung noch heilende Medikamente. Man weiß einfach noch zu wenig über diese Erkrankung, die zu den seltenen Erkrankungen zählt. Von selten spricht man dann, wenn weniger als eine von 2000 Personen davon betroffen ist. Bei NF2 trifft es einen von 40 000 Menschen.

 

Martin Schuhmann vom Zentrum für seltene Erkrankungen in Tübingen (ZSE) kennt viele der jungen Patienten, die in Deutschland mit dieser Diagnose leben. Denn das Tübinger ZSE ist eines der wenigen Zentren, die einen Schwerpunkt für die Behandlung von Neurofibromatosen haben und ist zusammen mit dem Hamburger Uniklinikum führend. „Für die jungen Patienten ist die Diagnose mehr als hart. Sie stehen am Beginn ihres Lebens und müssen sich nun mit einer Situation auseinandersetzen, die sie für den Rest ihres Lebens nicht aus der Welt schaffen können“, sagt Schuhmann. Denn bei dieser Erbkrankheit wachsen die Tumore im gesamten Nervensystem an delikater Stelle. Charakteristisch sind die beidseitigen Tumore des Hör- und Gleichgewichtsnerven, sogenannte Vestibularisschwannome. Dieser Nerv hat zwei Anteile: Der Hörnerv überträgt die Informationen aus dem Ohr ins Gehirn, so dass man versteht, was andere Menschen erzählen und ein nahendes Auto als solches erkennt, bevor es vorbeifährt. Der Gleichgewichtsnerv, aus dem die Tumore entstehen, ist für die Informationen des Gleichgewichtssinnes zuständig. Ist dieser Anteil defekt, wird dem Menschen schwindlig und schlecht, schlimmstenfalls kann er nicht mehr aufrecht stehen. „Der Hörnerv ist allerdings wesentlich empfindlicher. Dieser Nerv ist ein Teil des Zentralen Nervensystems, was bedeutet, dass verloren gegangene Funktionen, also etwa das Hörvermögen, nicht mehr regenerieren kann“, erklärt Schuhmann.

Der Tumor drückt auf den Hörnerv

Das ist fatal, denn die Tumoren befinden sich direkt am Hörnerv, Wachstum und Druck des Tumors wirken direkt auf den Nerv und bedrohen das Hörvermögen. Bei NF2 sind alle Zellen des Körpers durch einen Gendefekt verändert. Das bei NF2 defekte Gen liegt auf dem Chromosom mit der Nummer 22 und trägt die Bauanleitung für ein Protein namens Merlin. Das Protein Merlin verbindet Eiweißbausteine mit dem Skelett der Zelle und baut so eine schützende Wand auf. Zudem ist es ein Tumorsupressorprotein, es kontrolliert den Zellzyklus und unterdrückt unkontrolliertes Wachstum. Ein winziger genetischer Defekt reicht aus, damit Merlin nicht mehr korrekt gebildet wird und die tumorunterdrückende Wirkung entfällt. Zellen im Stützapparat von Nerven, aber auch Zellen der Hirnhäute und Zellen im Rückenmark selbst können sich unkontrolliert vermehren und wuchern. So entstehen dann die für die Erkrankung charakteristischen Tumore der Nerven, der Hirnhäute und des Rückenmarks. Der genetische Defekt kann von den Eltern an die Kinder vererbt werden, das ist in der Hälfte der NF2-Patienten der Fall. Bei der anderen Hälfte der Betroffenen tritt die Mutation im Erbgut spontan und zufällig auf.

Die einzige Möglichkeit dem Wuchern grundsätzlich ein Ende zu setzen, wäre ein Mittel, das die Funktionsweise von Merlin ersetzt oder ein selektiver Hemmstoff, um die krankhafte Vermehrung der Zellen zu verhindern. „Eine solche Substanz gibt es nicht und ist bisher auch nicht in der Entwicklung“, sagt der Tübinger Neurochirurg. Dies liege zum einen am grundsätzlichen Problem, wie man alle betroffenen Zellen erreichen könne, aber auch daran, dass die Pharmaindustrie kaum Interesse an der Entwicklung eines Medikaments habe, das bei so wenigen Patienten weltweit eingesetzt werden könne. Das bringe keinen Profit. Zudem werde im Vergleich mit anderen Erkrankungen auch an den Universitäten weniger geforscht. Das ist nicht nur bei NF2, sondern bei den meisten seltenen Erkrankungen der Fall.

Das Gehör wird regelmäßig überprüft

„Somit geht es aktuell in der Behandlung vor allem darum, das Gehör so lange wie möglich zu erhalten“, erklärt der Tübinger Mediziner. „Zeit schinden“, nennt er es auch. Die ganze Zeit wird der Hörnerv genau überwacht. Mit bildgebenden Verfahren werden die Tumore sichtbar gemacht und das Wachstum überprüft. Doch diese Bilder alleine nützen nichts, da sie nichts über die Funktion des Nerven aussagen. Daher wird das Gehör regelmäßig überprüft: Mit dem klassischen Hörtest werden Geräusche in ihrer Tonhöhe und Intensität ermittelt. Sogenannte akustisch evozierte Potenziale werden mit Elektroden auf der Kopfhaut abgeleitet und damit kann man erkennen, ob ein akustisches Signal vom Ohr bis zum Hörzentrum weitergeleitet wird. Bei einem Sprachdiskriminationstest schließlich untersucht man, ob der Patient versteht, was sein Gegenüber ihm sagt. Wenn sich das Hörvermögen verschlechtert, muss operiert werden. „Dabei wird nicht der ganze Tumor entfernt, damit würde man den Hörnerv zerstören. Vielmehr wird der Gehörgang geweitet und ein wenig Tumorgewebe entfernt, um den Druck vom Hörnerv zu nehmen“, erklärt Schuhmann. Die Operation hält jedoch den Tumor nicht auf, er wächst weiter – schädigt aber für Monate und Jahre nicht mehr den Hörnerv. Wird das Hörvermögen wieder schlechter, entscheidet man sich meist für eine unspezifische medikamentöse Behandlung, beispielsweise für das Mittel Avastin. Dieses Medikament wird bei vielen anderen Krebsarten eingesetzt, weil es die Blutzufuhr zu den Wucherungen unterdrückt. Avastin schränkt das Wachstum neuer Blutgefäße ein. Die Geschwulste werden mit weniger Sauerstoff versorgt und wachsen langsamer oder gar nicht mehr. Schuhmanns Hamburger Kollege Victor-Felix Mautner hat das Mittel erstmals bei NF2 eingesetzt und den meisten Fällen Erfolg gehabt. Allerdings sind die Nebenwirkungen von Patient zu Patient verschieden und vor allem die Langzeitwirkungen sind unklar: „Das Krebsmittel ist nur für kurze Gaben gedacht“, sagt Schuhmann. Bei NF2-Patienten müsste man es aber über Jahre hinweg geben und es sei noch nicht völlig klar, welche Folgen das haben könnte. Zudem sei Avastin für die Behandlung dieser Tumore vom Hersteller gar nicht zugelassen worden, so dass die Krankenkasse immer individuell überzeugt werden müsse, diese Behandlung überhaupt zu bezahlen.

Somit müssen sich Patienten und ihre Angehörigen lebenslang mit dem drohenden Hörverlust und den Folgen der anderen Tumore auseinandersetzen. Dies ist alles andere als leicht, weiß Schuhmann. Der Mediziner ist von dem Lebensmut und der Kraft seiner Patienten mit der Krankheit umzugehen sehr beeindruckt. Diese innere Stärke ist für die Prognose der Erkrankung nicht unwichtig: „Nicht nur medizinische Aspekte spielen eine Rolle bei dieser Erkrankung. Der Umgang mit dem Leiden hat auch einen Einfluss auf den Verlauf“, fasst er seine Erfahrungen zusammen. Auch wenn die Diagnose und die mannigfaltigen Folgen noch so schlimm erscheinen, viele Betroffene könnten damit erstaunlich gut leben.