Kreuzberg ist in. Wer nach Berlin kommt, der will hier wohnen oder wenigstens feiern. Das Viertel wird teurer – und auf einmal können viele Bewohner die Miete nicht mehr bezahlen. Es trifft viele Migranten, die jetzt protestieren.

Berlin - Vor gar nicht langer Zeit hätte Hatice Erdal sich nicht träumen lassen, dass aus ihr mal eine Protestcampbewohnerin wird. Sie ist 58 Jahre alt, und in ihrem ganzen Leben kam die Idee, auf die Straße zu gehen, nicht vor. „Aber jetzt verliere ich mein Zuhause“, sagt sie. „Was soll ich denn anderes tun?“

 

Also hat Hatice Erdal an diesem Vormittag Schichtdienst im Camp. Da sitzt sie nun auf einer Bierbank, eine ältere, türkischstämmige Frau in Rock und T-Shirt, die von feinen grauen Fäden durchzogenen Haare zum Knoten geschlungen, in der Hand einen Pappbecher mit Tee. Fünf Frauen haben sich hier versammelt, sie übernehmen die nächsten vier Stunden hier die Wacht.

Hinter der Sitzgarnitur steht kulissenhaft eine Bretterbude, das Camp. Flyer liegen überall, an den Wänden hängen Plakate. In einer Ecke liegen Zeltplanen gegen den Regen. „Die Miete ist zu hoch“, steht auf einem Papier. Und auf einem anderen Zettel: „Wir sind Kreuzberg.“ Ein Plakat ruft zur großen Demo am nächsten Samstag auf: „Wir bleiben alle!“, steht da. Auf deutsch und auf türkisch.

Plötzlich ist das Camp auf dem Bürgersteig aufgetaucht

Im Türkischen gibt es ein Wort für solche Buden: „Gecekondu“ – was so viel heißt wie „über Nacht gebautes Haus“, erklärt Hatice Erdal. Es ist neun Wochen her, dass das Camp plötzlich auf dem Bürgersteig auftauchte, direkt im Kreuzberger Herzen, hier am U-Bahnhof Kottbusser Tor, wo der Stadtteil noch am ungeschminktesten wirkt, und nicht gerade besonders schön.

Tag und Nacht bevölkern Menschen das Camp, alle vier Stunden wechseln sich die Nachbarn ab. Es gibt einen Plan für die Schichten, Frauen, Männer, Jugendliche machen mit. Es hat eine Weile gedauert, bis die Mieter der umliegenden Wohnungen sich zu diesem Schritt entschlossen haben. „Es fing an als Gespräch im Aufzug, dann sammelten wir Unterschriften“, berichtet Alexander Kaltenborn, einer der Gründer der Mieterinitiative „Kotti und Co“. Erst ging es nur darum, sich gegen die steigenden Mieten und Betriebskosten zu wehren, die es für viele hier immer schwieriger machen, wohnen zu bleiben. Etliche Familien seien schon weggezogen, berichten die Bewohner. Inzwischen, so sagt Kaltenborn, sei ein politisches Anliegen daraus geworden. „Wir sind keine Einzelfälle“, heißt es in einem Aufsatz der Initiative.

Kreuzberg ist in, jeder will zurzeit hierher, egal, ob als Tourist, als Student oder als neuer Kiezbewohner. Berlins einst ärmlichster Innenstadtbezirk, bis vor ein paar Jahren noch Heimat vieler sozial Schwacher, durchläuft derzeit im Zeitraffer eine Entwicklung, die die Gewinner als Aufwertung begreifen und die Verlierer als ein Prozess der Verdrängung.

Die bisherigen Bewohner müssen wegziehen

Der Mechanismus ist immer derselbe: ein Gebiet wird wegen seiner Mischung attraktiv – oft ist es eine Gegend mit unsaniertem, also billigem Wohnraum, der junge Menschen und Kreative anzieht. Die Avantgarde macht das Viertel attraktiv und lebendig, es entsteht ein Ort auch für den Mainstream aus Ausgehvolk und Touristen – und für den Immobilienmarkt. Es wird saniert, modernisiert und spekuliert. Die Folgen für die bisherigen Bewohner, junge Leute, Familien, sozial Schwache, sind verheerend: Sie müssen oft wegziehen, weil sie die Mietsteigerungen nicht verkraften. Dazu kommt in Berlin eine rasante touristische Entwicklung. Viele der billigen Wohnungen wurden in Ferienapartments umgerüstet und stehen nun dem normalen Markt nicht mehr zur Verfügung – ihre Zahl wird auf 12 000 geschätzt. Fast nirgends stiegen die Mieten in den vergangenen Jahren so wie in Kreuzberg.

Auch die Welt am Kottbusser Tor hat sich verändert. Als Hatice Erdal in den 80er Jahren in eine der Etagenwohnungen der 70er-Jahre-Neubauten zog, da lebten hier überwiegend türkische Migranten und viele Menschen ohne Job. Rund um den U-Bahnhof sammelte sich die Drogenszene. Der „Kotti“ mit seinen Großsiedlungen galt als sozialer Brennpunkt. Für die Menschen, die hier lebten, wurde er zur Heimat. Türkische Gemüseläden, Reisebüros, Arztpraxen und Fahrschulen siedelten sich an. Die Kreuzberger Mischung entstand in Zeiten der Wohnungsnot – mit der Hausbesetzerszene und später mit den Kreativen.

Inzwischen gehört die Gegend ums Kottbusser Tor zu den Ecken, die Touristen suchen, wenn sie eine Nase echtes Berlin nehmen wollen. Es gibt viele Bars und immer schickere Lokale – und dafür immer weniger kleine Einzelhändler, auch weil die Mieten steigen.

Hatice wohnt auf 39 Quadratmetern für 440 Euro

Die Geschichten, die die Frauen im Camp erzählen, ähneln sich alle. Hatice Erdal wohnt derzeit in einer Wohnung mit 39 Quadratmetern und einem Heißwasserboiler. Sie erzählt, ihre Miete sei binnen zwölf Jahren von etwa 260 Euro auf 440 Euro gestiegen. Sie lebt von Arbeitslosengeld II, wie viele hier. Das Jobcenter übernimmt die Miete aber nur bis zu einer bestimmten Grenze – die Differenz zahlen die Mieter aus eigener Tasche, wer sich das nicht leisten kann, muss umziehen.

So wie Aynur, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Sie ist eine alleinerziehende Mutter von drei Jugendlichen und macht in der nahen Grundschule Elternarbeit. Das Jobcenter stockt ihren geringen Lohn auf. Inzwischen zahlt sie 180 Euro für die Miete aus ihrem Einkommen. „Es bleibt fast nichts zum Leben“, sagt sie. „Die Kinder bekommen kein Taschengeld, ich kann sie nicht einmal ins Kino schicken.“ Am schlimmsten aber wäre es für sie, wenn sie umziehen müsste. Denn wer hier weggeht, der kann nicht darauf hoffen, in der Nähe eine bezahlbare Wohnung zu finden. Die Kinder würden ihr Umfeld verlieren und in eine neue Schule gehen müssen. Die ganzen Verwandten und Freunde leben hier. „Wir werden in die Vorstädte verdrängt“, sagt Aynur, „aber nach Marzahn zu ziehen, das ist doch für einen Türken einfach Selbstmord. “

Die Kappungsgrenze für Mieten kostete das Land 400 Millionen

Am Kottbusser Tor mischen sich verschiedene Probleme: Da ist zum einen die spezielle Situation der Mieter, die im sozialen Wohnungsbau leben – 80 Prozent von ihnen sind Migranten. Seit der damalige Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) 2003 einen Schlusspunkt unter das teure Berliner Fördersystem gemacht hat, werden die Mieten jedes Jahr um 13 Cent pro Quadratmeter erhöht, dazu kommen Betriebskosten, wie Alexander Kaltenborn sagt. Auch eine Kappungsgrenze für Mieten, die die soziale Lage der Bewohner berücksichtigte, existiert seit vergangenem Jahr nicht mehr – sie kostete das hochverschuldete Land Berlin jährlich etwa 400 Millionen Euro.

Alexander Kaltenborn sagt, viele Mieter hätten sich nach der ersten Erhöhung in einer Art Schockzustand befunden. Die Mieterinitiative versuchte erst, mit den beiden privaten Wohnungsbaugesellschaften zu verhandeln und einen Runden Tisch zu erreichen. Inzwischen versteht man sich als Akteur in der politischen Auseinandersetzung um Gentrifizierung. Regelmäßig wird gegen die Verteuerungen demonstriert. Die Mieter reden mit der Opposition. Die Initiative hat einen offenen Brief an den Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) geschrieben, in dem sie politische Forderungen erhebt – dazu gehört eine neue Kappungsgrenze für Großsiedlungen und die Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Der Senator hat ausführlich und sehr formal geantwortet – Aussichten, dass sich durch politisches Handeln an der Situation etwas ändern wird, bestehen danach nicht.

Die politische Diskussion in Berlin um die dringend erwünschte Entwicklung der Stadt auf der einen Seite, um teure Mieten, um Verdrängte und den sozialen Sprengstoff, den solche Prozesse bergen auf der anderen Seite, wird der rot-schwarze Senat nicht loswerden. „Wem gehört die Stadt?“ – dies könnte die wichtigste Frage im Berlin der kommenden Jahre werden.

„Wir sind Kreuzberg“, steht auf dem Transparent, vor dem Hatice Erdal sitzt. „Wir Türken kamen hierher, weil niemand hier wohnen wollte.“